Das Hospital. Benno von Bormann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno von Bormann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738094824
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speziell autorisierten Personen, ‘denen mit den geweihten Händen‘, wie Bekker das gerne spöttisch nannte. Ein Privatpatient wurde Spezialisten anderer Fachrichtungen nur in größter Not vorgestellt und an andere Kliniken bestenfalls unter Waffengewalt abgegeben, oder wenn der Patient ausdrücklich darauf bestand, was man in der Regel durch geschickte Manipulation seiner Ängste zu verhindern wusste.

      Bekker starrte verständnislos auf die Schwester, die sich, ohne weitere Erläuterungen, erneut ihrem Brunch zugewendet hatte, offenbar in der felsenfesten Überzeugung, der so unwillkommen Hereingeplatzte sei nun ausreichend informiert und würde seiner Wege gehen, ohne den gemütlichen Brunch weiter zu stören. Bekker fühlte, wie ihm der Kamm schwoll. Er ging neben der rothaarigen Schwester in die Knie, so dass er ihr von unten ins Gesicht blickte. Er war kreideweiß, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

      „Hör zu, Mausi,“ sagte er, ohne die Stimme zu heben, „ich habe eine freundliche Frage gestellt und ich will nicht mehr als eine Antwort, freundlich oder unverschämt, das ist mit so egal wie der Kuh der Sonntag, nur eine Antwort. Wo ist mein Freund Jürgen Menzel? Seit gestern Patient auf dieser verdammten Station. Du kennst doch deine Patienten“, immer noch flüsterte er, so dass die beiden anderen kaum etwas verstanden, „oder wird erst diniert und dann werden die Patienten versorgt? Nach dem Nachtisch, und wenn nichts Wichtigeres ansteht?“ Er stand auf, und im selben Moment bereute er, was er gesagt hatte. Er fuhr sich durch die Haare und war wieder der unstete Junge in seinem verschwitzten Freizeitoutfit, voller Sorge um seinen besten Freund. Martina Zech war über und über rot geworden, und für einen Moment hatte es ihr die Sprache verschlagen, was nicht häufig vorkam. Sie holte tief Luft, aber Bekker kam ihr zuvor.

      „Tut mir leid“, murmelte er, und fasste sie an der Schulter, als wolle er verhindern, dass sie wie eine Furie aufsprang, „verflucht nochmal, tut mir leid! Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Irgendwie ein bisschen viel seit gestern.“ Er griff sich einen freien Stuhl und setzte sich, die Wand zum Flur unmittelbar im Rücken. „Hab’ gerade meinen Urlaub geschmissen, weil“, er brach ab. Er dachte plötzlich an Birte und die Kinder. Für einen Moment musste er gegen die Verzweiflung kämpfen, die ihn überkommen wollte. Er schwieg, und es ließ nach. Was ging das alles die Leute an? Wen interessierte es, wie er sich fühlte? Auch die Pose des Staatsanwaltes stand ihm nicht zu, etwa, ‚Ich stehe hier, weil der Patient Jürgen Menzel offensichtlich Opfer eines Behandlungsfehlers geworden ist‘. Statt dessen hob er die Schultern und murmelte,

      „Na ja, der Jürgen und ich, wir sind schon zusammen in die Schule gegangen“, und beinahe trotzig, „Ich kann doch nicht einfach in Urlaub fahren, und er liegt hier...“ Wieder beendete er seinen Satz nicht. Er sprach nicht zu den Anwesenden, sondern zu seiner Familie weit weg im Flieger nach Rom, aber das wusste hier natürlich keiner.

      „Ich bin einfach in Sorge“, ergänzte er schließlich vage und fügte schnell hinzu, „Die Familie des Patienten auch.“

      „Die Familie sitzt bereits seit mehr als einer Stunde im Zimmer vom Chef“, sagte die Schwester spitz, wobei sie ‘Familie‘ betonte. Offensichtlich hatte sie ihre Sprache wiedergefunden.

      „Die Frau“, ergänzte sie schließlich, und machte Bekker klar, dass seine Rolle als Anwalt der Angehörigen nicht verfing. Dennoch wurde ihr Ton freundlicher. Sie hatte nichts gegen Bekker. Er war von den ungezählten Oberärzten auf der universitären Überholspur einer der ganz wenigen, die bei ihr nicht unter der Rubrik ‚skrupelloses, karrieregeiles Arschloch‘ abgelegt waren. Er war wirklich der Letzte, mit dem sie Streit haben wollte, auch wenn sie nicht verstand, worüber er sich so aufregte.

      „Ihr Freund ist im OP“, sagte sie kurz, „schon seit mehr als zwei Stunden. Wegen einer Nachblutung. Hatte wohl ziemlich viel Druck in der Birne. Oberarzt Müller operiert ihn. Der Chef war nur am Anfang ein paar Minuten drin. Seitdem kümmert er sich um die trauernde Witwe.“ Sie konnte sich diese neuerliche Spitze nicht verkneifen, schwieg aber sofort, denn sie sah Bekker an, sah sein Entsetzen und seine Angst. Der letzte Rest von Wut verflog. Statt dessen überkam sie eine warme Welle von Sympathie mit diesem verrückten Kerl in seinen abgerissenen Jeans und dem verschwitzten T-Shirt, der wegen seines Freundes offenbar den lang geplanten Urlaub hatte sausen lassen und Hals über Kopf in die Klinik zurückgekehrt war. Seine Familie war sicher begeistert von dieser Entscheidung. Jeder in der Klinik wusste, dass Bekker ein extremer Workaholic und selten zu Hause war. Wahrscheinlich riskierte er gerade seine Ehe. Martina Zech stand auf und fasste Bekkers Arm in einer plötzlichen Geste.

      „Mensch, Bekker“, sagte sie leise, „stay cool, baby.“ Sie strich wie unabsichtlich über seinen Rücken. „Sie sind im neurochirurgischen Bereich im Zentral-OP“, sagte sie, „Ihr Chef ist, glaube ich, höchstpersönlich dabei.“

      „Danke“, sagte Bekker. In der Tür drehte er sich noch einmal verlegen um, „Tut mir leid, ehrlich.“ Damit war er weg.

      Als Bekker die Personalschleuse zum zentralen Operationstrakt betrat, stieß er beinahe mit seinem Chef, Professor Fritsche, zusammen, der den Raum soeben verlassen wollte.

      „Ach nee, der Herr Bekker!“ Fritsches Ton war wenig freundlich. Es klang, als habe er einerseits Bekkers Erscheinen erwartet und sei andererseits verärgert darüber, dass er nun tatsächlich aufgetaucht war.

      „Was machen Sie denn hier, Sie Unglücksrabe? Reicht es denn nicht, was sie bisher angerichtet haben? Warum sind sie, verdammt noch mal, nicht in den Urlaub gefahren? Bis zu Ihrer Rückkehr hätte ich hier sicher alles geregelt gehabt.“ Bekker reichte seinem Chef verlegen die Hand.

      „Hallo, Herr Fritsche.“ Er stockte, weil er nicht recht wusste, was er sagen sollte. Musste er sich tatsächlich dafür rechtfertigen, dass er in seiner freien Zeit, sogar in seinem Urlaub, nach einem Patienten sah? Und was sollte das heißen, ‚Was Sie angerichtet haben?’ Was hatte er angerichtet? Was gab es ‚zu regeln‘? Bekker hatte in seiner Sorge um den Freund alles verdrängt, was in den letzten vierundzwanzig Stunden vorgefallen war.

      Langsam dämmerte es ihm. Er hatte wohl für einigen Aufruhr gesorgt. Hatte die ehernen Gesetze einer deutschen Universitätsklinik missachtet. Er dachte nicht lange darüber nach und hatte weniger denn je Interesse daran, ausgerechnet jetzt politische Sachverhalte zu diskutieren. Der große neurochirurgische Guru war verärgert. Na und? Bekker konnte sich beim besten Willen nichts vorwerfen. Für sein Verhalten gab es vielmehr gute Gründe. Warum machte sein eigener Chef eine solche Welle und wandte sich gegen ihn? Fritsche war selbst kein Klosterschüler und würde das alles sehr gut verstehen, wenn er ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Aber dafür war jetzt wirklich keine Zeit. Bekker versuchte seine Ungeduld zu zügeln, brachte aber nur ein lahmes,

      „Ach wirklich?“ hervor, und dann, ungeduldig,

      „Wie geht es dem Jürgen? Ich meine dem Patienten, dem Herrn Menzel?“ Es kostete ihn Mühe, Ruhe zu bewahren. Am liebsten hätte er geschrien und Fritsche an den Schultern gefasst und ihn geschüttelt.

      „Es war eine Nachblutung, sagen Sie schon. Das war heute Nacht schon klar. Ich bin ein solcher Idiot. Wäre ich bloß nicht nach Hause gefahren. Die haben mich gelinkt, Brücher vorne dran. Warum haben die das getan? Ich versteh’s einfach nicht. Wirklich, ich würde jedes vernünftige Argument akzeptieren.“ Bekker holte tief Luft und versuchte seine Emotionen zu zügeln. Es waren Fragen und Suggestionen zugleich, und sie richteten sich in verzweifelter Hoffnung an den Älteren, Erfahreneren, der wissen musste, wie die Sache stand.

      „Gott sei Dank, dass Müller heute Dienst hat.“ Er brach unvermittelt ab, da er das konsternierte Gesicht seines Gegenübers registriert hatte. Fritsche hatte mit zunehmendem Ärger zugehört. Als er antwortete, ging er mit keinem Wort auf Bekkers Unterstellungen und Fragen ein, erwähnte auch den Patienten nicht mit einer Silbe.

      „Jetzt hören Sie einmal zu, Sie verbohrter Mensch. Wissen Sie eigentlich, was hier los ist? Glauben Sie, Brücher und ich sind an einem Samstag im OP, weil’s uns zu Hause langweilig ist? Oder weil wir uns für unersetzlich halten, wie gewisse andere Leute in ihrer maßlosen Selbstüberschätzung? Zur Notfallversorgung außerhalb der Dienstzeiten gibt es in beiden Kliniken glücklicherweise kompetente und vernünftige Oberärzte.“ Er betonte das