Sagte er das, um sich selbst zu beruhigen? Mit einem ‚solchen‘ Patienten meinte er vor allem das Alter und das Umfeld. Der gute Freund eines Oberarztes der Klinik – wenn da etwas schiefging, würde es Kreise ziehen. Trotz der zur Schau getragenen Zuversicht beschlichen ihn, während er mit seiner Frau sprach, erneut Zweifel. Ein erhöhter Hirndruck nach einer lokalen operativen Maßnahme am Gehirn war eigentlich immer Hinweis auf eine Nachblutung, die nicht ausreichend drainiert war. Er konnte sich nicht erinnern, jemals erlebt zu haben, dass sich eine solche Symptomatik spontan zurückgebildet hatte. Wie sollte das auch gehen in so kurzer Zeit? Blutung war Blutung, und danach sah es hier aus. Aber Tanaka hatte gesagt, es wäre alles in Ordnung, und dessen Urteil konnte man absolut vertrauen. Dann war das in der Nacht offenbar der seltene Fall eines lokalen Ödems gewesen, und das konnte sich in der Tat spontan zurückbilden.
Bekker streckte sich und bemerkte, dass er noch den Morgenmantel anhatte. Birte war schon wieder weg. Irgendwo hatte ein Kind lauter als üblich gebrüllt, und sie war sofort losgerannt. Es fehlte noch, dass gerade jetzt, wo sie endlich aufbrachen, irgend etwas mit den Kindern passierte. Wieder wurde Bekker bewusst, wie sehr seine Frau auf diesen Urlaub fixiert war. Hier ging es um mehr als um banale Erholung. Viel mehr! Er hatte im Stillen ein heiliges Gelübde abgelegt, die nächsten Wochen der liebste, lustigste und hingebungsvollste Familienvater des Universums zu sein. Und er freute sich darauf. Oft genug hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn die Kinder ihn nervten mit ihren Wünschen und Fragen, ihrem ständigen Jammern, etwas mit ihnen zu unternehmen. „Mir ist langweilig, Papa.“ Wie das nervte. Er hasste sich dafür, wie er die beiden manchmal schroff abservierte oder mit irgendeiner scheinheiligen Ausrede vertröstete. Die großen verständnislosen Kinderaugen brannten in seiner Seele. Und trotzdem verhielt er sich immer wieder so. Natürlich hatte er viel zu tun, aber das hatten andere auch, ohne deswegen ihre Familie derart zu vernachlässigen, wie er es ohne Zweifel tat.
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Birte kam aus einer Juristenfamilie, während Bekkers Eltern, die meisten seiner Geschwister sowie etliche Schwäger, Cousinen und Cousins Ärzte waren. Auch wenn seine Familie gut situiert war, wie man das so nannte, hatte Bekker nichts geerbt. Sie waren sieben Kinder gewesen, und seine Eltern hatten ihnen nichts vorenthalten. Ihren Lebensabend verbrachten sie mit Reisen, und Bekker hatte sie stets dazu ermuntert. Als sie starben, reichte es für das Begräbnis und die Hypotheken. Immerhin hatten alle sieben Kinder eine tadellose Ausbildung. Das war in Bekkers Augen ein großartiges Vermächtnis und völlig ausreichend. Seine Geschwister dachten ebenso. Was er besaß, hatte er sich erarbeitet. Es war wenig genug an materiellen Werten, doch das scherte ihn nicht.
Birtes Vater, Dr. jur. Mirko Hartmann, saß im Vorstand etlicher großer Konzerne. Er war sehr konservativ und sehr reich. Bekker hatte sich oft gefragt, wie er wohl zu dem flotten Vornamen gekommen war in diesem gediegenen Umfeld. Die Heirat seiner Tochter mit Bekker hatte bei Hartmann keine reine Freude ausgelöst, obwohl sie sich auf menschlicher und intellektueller Ebene gut verstanden. Ihm gefielen Bekkers scharfer Verstand und seine unkonventionelle Art, die Dinge anzupacken. Auch ihre Wertvorstellungen lagen dicht beieinander. Bekker machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass Geld, Titel und gesellschaftliche Position nur dann für ihn zählten, wenn sich dahinter Persönlichkeiten verbargen, die dieser Äußerlichkeiten nicht bedurften, um bedeutend zu sein.
Als Bekker und Birte sich kennenlernten, war er bereits Facharzt für Anästhesie. Sie studierte Jura und stand unmittelbar vor dem ersten Staatsexamen. Ihr Vater begriff sofort, dass seine Tochter den Mann gefunden hatte, den sie heiraten wollte. Auch wenn er gegen Bekker als Person keinerlei Einwände hatte, so empfand er ihn jedoch in zweifacher Hinsicht als Bedrohung. Zum einen fürchtete er, wie alle wertkonservativen und ehrgeizigen Eltern in einer solchen Situation, Birte könnte ihr Studium abbrechen. ‚Man besitzt nur das wirklich, was man im Kopf hat’, war sein Credo, ‚alles andere ist Schall und Rauch.’ Er konnte nicht ahnen, wie sehr Bekkers und seine Ansichten in diesem Punkt übereinstimmten. Bekker würde niemals dulden, dass eine Frau ihm zuliebe ihre Ausbildung abbrach.
Hartmann hatte aber auch mit der unterschiedlichen Vermögenssituation Probleme, was ein wenig im Widerspruch zu seinen grundsätzlichen Wertmaßstäben stand. So waren seine Überlegungen auch mehr pragmatischer Natur. Bekker war ein tüchtiger junger Mann aus bester Familie, deren einziger Nachteil darin bestand, dass sie kein Vermögen besaß. Bekker selbst hatte sein Gehalt und die Zuschläge für Bereitschaftsdienste plus der Chefarztzulage von Fritsche. Das war’s. Die Option auf eine große und damit lukrative Karriere war sicher überdurchschnittlich hoch, aber nichts, worauf man bei dem Überangebot an habilitierten Ärzten hohe Wetten abschließen konnte. Einer solchen Laufbahn stand zudem einer von Bekkers typischen Wesenszügen entgegen: Er war alles andere als angepasst. Das mochte ehrenwert sein, doch für den beruflichen Erfolg nicht eben förderlich. Welche Basis hatte eine solche Ehe?
Birte Hartmann war bereits als Studentin so vermögend, wie Bekker es nie sein würde. Was wäre, wenn er nicht Chefarzt würde, sondern als beamteter akademischer Rat an der Uni bliebe mit monatlich dreitausend Euro netto? Egal wie groß die Liebe war, die Tatsache, dass seine Frau ihrer beider Lebensunterhalt aus der Portokasse finanzieren konnte, während der traditionelle Ernährer über das nächste gebrauchte Auto nachdenken musste, würde irgendwann zu Problemen führen.
Doch Hartmann war bei allen Vorurteilen und Bedenken ein feiner Mensch. Er hintertrieb die Verbindung seiner Tochter nicht mit schmutzigen Tricks, wie sie ihm durchaus zur Verfügung gestanden hätten und wie sie in seinen Kreisen bei solchen Gegebenheiten gang und gäbe waren. Er führte statt dessen einige unaufgeregte, durchweg liebevolle Gespräche mit seiner Tochter, in deren Verlauf ihm klar wurde, dass er sich nicht weiter zu bemühen brauchte. Birte liebte diesen Mann und keinen anderen, und damit erübrigte sich jede Diskussion, denn ihr Wille war hart wie Granit. Da glich sie sehr ihrem Vater.
„Papa, glaub mir, Dein Geld wollen wir beide nicht. Ich musste Peter versprechen, dass wir unseren Lebensstandard seinen finanziellen Verhältnissen anpassen. Ist das nicht süß?“ Hartmann fand es keineswegs süß, denn er hielt es für wohlfeile Attitüde oder aber bodenlose Weltfremdheit, ohne dass er hätte sagen können, was ihn mehr beunruhigte. Birte besaß Aktienpakete und Beteiligungen. Die waren da, ob sie wollte oder nicht.
Die Familie fügte sich schließlich, wohl wissend, dass es auch schlechter hätte kommen können. Birtes einziger Bruder, Johannes, der seit mehreren Jahren mit seiner amerikanischen Frau in Kapstadt lebte und nur wenig Kontakt zu seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester hatte, schrieb ihr einen kurzen, aber sehr pointierten Brief, mit dem abschließenden Rat, ‚Wenn Du etwas wirklich willst, tu es. Wenn Du etwas wirklich liebst, halt es fest mit aller Macht, deren Du fähig bist. Das Leben wird nie mehr etwas ähnlich Wertvolles für Dich bereithalten.‘
Sie feierten eine rauschende Hochzeit, aber ohne Flitterwochen, denn Bekker war in der Klinik mal wieder nicht entbehrlich, und Birte stand vor dem nächsten Examen. Bald war sie mit Jenny schwanger und fürs Lernen nicht mehr so motiviert wie am Anfang ihres Studiums, weshalb sie einen Prädikatsabschluss verpasste. Zudem entwickelte sie vollkommen neue Wertvorstellungen. Sie empfand das, was mit ihr vorging, als etwas Einzigartiges. Unendlich wichtiger und schöner als alles, was sie bisher erlebt hatte. Das Kind in ihrem Bauch war das Leben, war die Liebe, das Sein schlechthin. Es verkörperte für sie das Gute im Menschen und war eine einzige grandiose Belohnung durch die Natur. Was waren ein Studium, eine Karriere, Geld und Besitz gegen dieses Wunder der Menschwerdung?
‚Du bist mein Kind‘, flüsterte sie manchmal, wenn sie im Schaukelstuhl saß, das Kleine sich in ihr regte und mit den Füßen gegen ihren Bauch trat, ‚und ich bin Deine Mami, die Dich