Das Hospital. Benno von Bormann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno von Bormann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738094824
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Fall noch mehrere Stunden, und dann ist es zu eh spät, dann hat der Patient irreversible Schäden und man kann das Operieren ganz lassen. Soviel steht fest.“

      Tanaka zögerte, versuchte offenbar zum Ende zu kommen. „Ich weiß, dass Sie auf dem Weg in den Urlaub sind. Wahrscheinlich ist ohnehin nichts mehr zu reparieren. Tut mir leid! Aber es ist Ihr Freund. Ich musste Sie informieren. Wenn der Patient noch eine minimale Chance haben soll, dann sofort! Jede Minute zählt!“ Den letzten Satz hatte er geflüstert. Im nächsten Moment war die Verbindung weg. Tanaka hatte aufgelegt.

      Bekker stand einen Moment wie gelähmt. Er überlegte fieberhaft. Der Flug war bereits aufgerufen. Eben in die Klinik rasen, alles geradebiegen und auf den letzten Drücker in den Flieger springen, das ging im Kino, aber nicht hier. Wenn er in die Klinik zurückkehrte, und daran bestand für ihn schon jetzt kein Zweifel, dann würde es eine Auseinandersetzung auf Biegen und Brechen werden. Das wäre in ein paar Stunden nicht erledigt, denn er würde erst wieder von der Seite des Freundes weichen, wenn jegliche weitere Komplikationsmöglichkeit ausgeschlossen werden konnte. Aber die Komplikation war längst eingetreten, da war nicht mehr viel zu reparieren. Nach allen Regeln der Neurophysiologie war dieser Fall gelaufen. Was genau konnte er überhaupt noch tun? Und die Familie? Birte, die Kinder?

      „Papa, Paapaa!“ Zenia zerrte an seiner Hose und deutete in die Richtung, wo Birte und Jenny standen und warteten. Schließlich rannte sie zur ihrer Mama zurück, fiel hin dabei und begann im gleichen Moment zu brüllen. Birte hob sie hoch, um sie zu trösten, während Bekker langsam auf die Szene zuging.

      Birte hatte das schreiende Kind auf dem Arm, aber sie beobachtete ihn genau. Sie ahnte, es war etwas passiert, und als er schließlich mit hängenden Schultern und diesem typischen schuldbewussten Gesichtsausdruck, den sie so gut kannte, vor ihnen stand, wusste sie, dass er nicht mit ihnen fliegen würde. Sie sah ihn an wie einen Fremden, ohne Vorwurf und ohne Trauer, nur einfach so. Bekker versuchte ihren Blick zu erwidern und erschrak. Irgend etwas in ihren Augen war erloschen.

      „Ich komme nach, ich verspreche es. Es ist ein Notfall, nicht das Übliche. Tanaka hat mir reinen Wein eingeschenkt. Die angebliche Besserung, alles gelogen. Auf höchste Anordnung. Bitte, Birte, versteh mich, es geht doch nicht um irgend jemanden. Es ist unser bester Freund, und man ist gerade dabei, ihn zum Krüppel zu machen. Brücher ist wahnsinnig, anders kann ich es mir nicht erklären. Altersstarrsinn, was auch immer. Er setzt sein Lebenswerk aufs Spiel, denn das ist ein ärztlicher Fehler, den ihm jede Schwesternschülerin um die Ohren haut. Aber das hilft Jürgen hinterher auch nicht mehr. Ich muss ihn da heraushauen. Er würde dasselbe für mich tun. Bitte, Birte.“ Er beschwor sie, war völlig aufgelöst, außer sich, schielte bereits zum Ausgang, weil wertvolle Zeit verrann.

      „Hör zu, Peter“, Birtes Stimme schien von einem fremden Planeten zu kommen, „Lass Dich nicht aufhalten. Gut, diesmal ist es unser bester Freund, und Freunden hilft man. Aber das ist reiner Zufall, Hand aufs Herz. Wäre es irgendein anderer von Deinen Patienten, hätten wir die gleiche Arie vom unersetzbaren Retter Peter Bekker, also erzähl mir nichts. Sieh Deine Kinder nochmal an, Du Wohltäter. Wer weiß, wann Du sie wiedersiehst und ob Du sie dann auf Anhieb erkennst.“

      Sie hielt inne, wirkte erschöpft wie nach einem sehr langen Weg. Als sie fortfuhr, sah sie ihn nicht an, sprach nicht zu ihm, sondern zu einem imaginären Auditorium. Es war ein makabrer, verzweifelter Monolog, ein Schrei um Hilfe, den Bekker nie mehr vergessen würde, solange er lebte.

      „Es ist meine Schuld. Ich weiß jetzt auch, was ich falsch gemacht habe.“ Tränen rannen über ihr Gesicht, mehr und immer mehr. Sie achtete nicht darauf, schluchzte nicht. Ihre Stimme war monoton und ohne jede Regung.

      Sie deutete auf die Kinder. „Ich hätte die beiden doch einfach nur vor ein Auto stoßen müssen oder in den Fluss schmeißen.“ Sie hielt inne, als ob sie nachdenke und wäre zu einer schlüssigen Erkenntnis gelangt. Sein entsetztes Gesicht beachtete sie nicht.

      „Dann wären sie mit etwas Glück schwer verletzt worden oder halb ertrunken und zu ihrem Papa in die Klinik gekommen.“ Ihre Tränen saugten sich in den Kragen ihrer Jacke, aber sie schien es nicht zu bemerken. Ihre Stimme war plötzlich fest und klar, „Und dann, aber nur dann hätten sie vierundzwanzig Stunden am Tage die ganze ungeteilte Aufmerksamkeit und Fürsorge ihres Vaters, die sie so sehr ersehnen, auch wenn sie’s nicht in Worte fassen können. Die sie mehr brauchen als alles andere. ..Aber so ...“, sie ließ den Satz in der Luft hängen und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, als würde es regnen.

      Bekker stand vor den dreien wie ein zu-ewiger-Verdammnis Verurteilter. Es waren die Menschen, die ihm am meisten auf der Welt bedeuteten. Für die er jederzeit sein Leben geben würde. Jetzt aber blickten sie auf ihn wie die Richter eines hohen Tribunals. Es gab keine Antworten. Nichts ließ sich rückgängig machen. Sie liebten ihn, und er liebte sie. Aber er gehörte nicht dazu. Er war ausgestoßen, weil er selbst es so wollte.

      Ein Gefühl unendlicher Verlassenheit, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr verspürt hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Er konnte nicht sprechen, wusste, dass er sie nicht erreichen würde. Mit einer hilflosen Geste wandte er sich ab, strebte kurz darauf mit eiligen Schritten dem Ausgang zu. Bekker kannte das Risiko. Er war dabei alles zu verlieren, was ihm wichtig war, und dennoch setzte er seinen Weg unbeirrt fort, ohne das geringste Zögern. Dies war sein Schicksal. Eine Schere, die sich nicht schließen ließ. Er sehnte sich so sehr danach, geliebt zu werden, aber er ertrug keine Nähe. Er trat aus der Halle und winkte nach einem Taxi.

       11. Kapitel Universitätsklinik

      „Wo soll’s denn hingehen?“ Der Taxifahrer hatte sich halb zu dem verschwitzten Mann umgedreht, der im Fond seines Wagen Platz genommen hatte und seit einer Minute vor sich hin stierte, ohne etwas zu sagen. Bekker schrak auf, als wäre er gerade aufgewacht.

      „Ach ja, Entschuldigung. Bitte zur Universitätsklinik. Haupteingang Chirurgie. Clemensstraße, na, Sie wissen schon, oder?“ Der Fahrer hatte sich bereits umgedreht und den Anlasser betätigt. Natürlich wusste er, wo die Chirurgie der Unikliniken war. Seine Schwiegermutter wurde dort seit mehreren Wochen behandelt. Darmkrebs. Sah nicht gut aus, was die Ärzte so sagten.

      „Ist was passiert?“ gab er sich leutselig. Der Mann auf dem Rücksitz seines Wagens machte einen verstörten Eindruck, und er versuchte, ihn ein bisschen aufzumuntern. Wahrscheinlich ein Unfall in der Familie. Der sah aus, als käme er gerade vom Sportplatz oder einem Gartenfest mit Kindern.

      Bekker sagte nichts, da er nicht hingehört hatte. Er war mit sich selbst beschäftigt, hatte angefangen nachzudenken. Er saß jetzt also im Taxi auf dem Weg zur Klinik. In weniger als zehn Minuten würden sie da sein. Und dann? Würde er in das Gebäude stürmen, Excalibur aus der Scheide reißen und eine feurige Spur der Vergeltung durch die hohen Gänge des altehrwürdigen Gebäudes ziehen? Würde er persönlich die zweifelsohne lebensrettende Operation beginnen, unterstützt nur von einer treuen Nonne, die als einzige zu ihm hielt?

      Er lächelte. Die verrücktesten Assoziationen kamen ihm in den Sinn, und die Gedanken schlugen in seiner aufgewühlten Seele Purzelbäume. Ja, tatsächlich, was genau wollte er eigentlich hier? Er hatte keine Ahnung. Ihm wurde klar, dass er keinerlei Rechte besaß und viel wichtiger, dass er von den nächtlichen Ereignissen eigentlich gar keine Kenntnis haben konnte. Tanakas Auskünfte, sein verzweifelter Anruf waren vertraulich gewesen, absolut vertraulich. Offiziell ging es dem Patienten Jürgen Menzel blendend. Was also wollte er hier? Wenn er für seinen Freund etwas tun wollte, musste er überlegt vorgehen. Ein Eklat nützte niemandem. Im Gegenteil, man würde ihn in die Schranken weisen, möglicherweise suspendieren. Fritsche würde ihm in keinem Fall den Rücken stärken, würde es nicht können, nicht wollen. Unter solchen Umständen.

      Welchen Umständen eigentlich? Je näher sie der Klinik kamen, desto deutlicher wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er keinerlei Plan hatte, auf keinerlei Eventualitäten vorbereitet war. Er begann seine Gedanken zu ordnen. Tanakas Beurteilung der medizinischen Fakten stand für ihn außerhalb jeden Zweifels. Daran musste er jetzt keinen einzigen Gedanken verschwenden. Dem Japaner war der Anruf schwer genug gefallen. Er hatte sich aus Gewissensgründen dazu entschlossen.