„Können wir irgend etwas tun? Wann sollen wir anrufen und sie besuchen? Sie haben hier viel zu tun, das sieht man ja, und wir wollen den Betrieb nicht stören. Nützt schließlich auch unserer Tochter.“ Bekker erhob sich aus der unbequemen Hocke.
„Rufen Sie an, wenn Ihnen danach ist. Ansonsten, die beste Tageszeit zum Telefonieren ist später Vormittag. Oder auch sehr früh, vor sechs. Es ist rund um die Uhr ein Arzt da. Besuchszeit ab fünfzehn Uhr. Auch hier gilt: kommen Sie ruhig, wenn Sie es nicht aushalten. Ihre Tochter ist zwar im künstlichen Tiefschlaf, aber sie merkt mit Sicherheit, dass Sie da sind. Wissen Sie, ich glaube nicht an die alleinseligmachende Medizin. Die Nähe lieber Menschen tut mehr als manches Medikament. Ich denke, Sie verstehen, was ich meine. Wir sind ein Team, das an einem Strang zieht. Sie gehören von Anfang an dazu. Nehmen Sie uns beim Wort.“ Die Oberärztin sah ihn scharf von der Seite an. Bekker war in seinem Element, und sie versuchte ihn davon abzuhalten, in eine seiner Endlospredigten über das Menschliche im allgemeinen und in der Medizin im besonderen zu verfallen, so sehr sie ihn für seine Einstellung schätzte. Sie nutzte die entstehende Pause, um Frau Lein direkt anzusprechen.
„Ich schlage vor, Sie gehen noch einmal zu Ihrer Tochter hinein. Ich gehe mit Ihnen, wenn Sie möchten.“ Frau Lein nickte unmerklich.
„Zuvor aber noch eine kurze Frage. Gibt es irgendwelche Vorerkrankungen bei Friederike? Unwahrscheinlich in dem Alter, aber sicher ist sicher.“
„Nein, sie ist ein vollkommen gesundes Kind.“ Ein kurzes, schmerzliches Zögern. „Jedenfalls war sie es bis heute.“
„Okay. Sonst noch etwas. Allgemeine Entwicklung normal? Ich nehme an, sie hat bereits ihre Periode.“ Frau Seelmanns Ton war geschäftsmäßig. Heutzutage hatten die Mädchen ihre Regel manchmal schon mit zehn Jahren. Sie wollte aufstehen und sah die Mutter an. Erschrocken hielt sie inne. Sybille Leins Fassade begann zusammenzubrechen. Ihr Blick ging ins Leere, und sie begann ohne jeden Übergang lautlos zu weinen. Sie schluchzte und schrie nicht, aber sie weinte hemmungslos, wobei die Tränen in endlosem Strom über ihre Wangen liefen. Regina Seelmann griff in ihre Kitteltasche und zog ein frisches Taschentuch hervor.
Sie wusste sofort, was die Frau aus ihrer mühsam gewahrten Fassung gebracht hatte. Es war die Erwähnung einer Banalität, einer Alltäglichkeit. Die Periode ihrer Tochter. Das gleiche junge Mädchen, das schwerverletzt auf einer Intensivstation lag und vielleicht sterben musste. Ja, sie hatte ihre Periode. Genau in diesem Moment musste der Mutter klar werden, dass sie alles dafür geben würde, ihrer kleinen Tochter weiterhin bei den Problemen mit der beginnenden Weiblichkeit zu helfen. Genau in diesem Moment fragte sie sich, ob sie die bisherige Zeit mit ihrem Kind genutzt hatte. Jetzt, wo Zeit plötzlich kostbarer war als alles andere und ihr gemeinsames Leben und Erleben vielleicht viel kürzer sein würden, als sie geglaubt hatte.
Bekker streckte sich vorsichtig. Gefühlsausbrüche machten ihn unsicher, da er selbst schnell in Wallung geriet. Er entschloss sich, die Eheleute der Oberärztin zu überlassen.
„Besprechen Sie die Tracheotomie und die Peridurale, wenn Sie den Eindruck haben, dass die Leute das noch verkraften für heute“, raunte er ihr beim Hinausgehen zu. Es war für ihn alles Wesentliche gesagt. Er hatte wie stets jede Spekulation über die Prognose unterlassen und war heute besonders froh darüber.
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