Musste sich sogar die eigene Verwandtschaft aufwerten, indem sie ihn abwertete? Udo wollte keinen Streit vom Zaun brechen, er schwieg und ließ Iris und Werner noch eine Weile schwadronieren, dann entschuldigte er sich und bat die Familie höflich, aufzubrechen. Er habe unerträgliche Kopfschmerzen und müsse sich dringend hinlegen.
„Wir wollten sowieso gerade gehen“, erwiderte Iris, „aber wir hoffen, Du hast unsere Meinung über Arbeitslose nicht auf Dich bezogen. Wir wissen doch, dass Du ehrlich bemüht bist und einfach viel Pech hattest!“
„Das weiß ich doch, dass Ihr mich damit nicht gemeint habt!“, sagte Udo tapfer, doch er hätte schreien mögen, denn selbst Iris letzten Worte klangen wie blanke Ironie.-
Nach dem Geschirrspülen
am späten Abend nahm Udo den vorangegangenen Besuch seines Bruders zum Anlass, intensiv über sein Leben nachzudenken:
Nach der neunten Klasse mit einem schlechten Hauptschulabschluss vom Gymnasium geflogen - das war die erste bittere Pille, die er hatte schlucken müssen! Nicht, dass er faul war, nein er war ganz einfach mit seinen Mitschülern nicht zurecht gekommen und hatte daraufhin ganz aufgegeben.
Im Unterricht selbst hatte er sich nie als Leuchte hervorgetan, er war still und meldete sich nie zu Wort .Auch dann nicht, wenn der Lehrer sich mit einer Frage direkt an ihn wandte. „Debiler Schwachkopp“ war irgendwann sein Spitzname in der Schule. Und er wurde von fast allen Klassenkameraden auch nicht anders angesprochen, weder im Unterricht noch auf dem Schulhof. Er fühlte sich dieser Beschimpfung damals jeden Tag aufs Neue hilflos ausgeliefert! Gleichwohl war er sehr darauf bedacht, dass niemand außerhalb der Schule von diesem Spitznamen erfuhr, zu sehr hatte er sich dafür geschämt!
Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er etwas selbstbewusster gewesen wäre, überlegte er selbstkritisch und ließ nun ein Leben Revue passieren, wie er es gerne gehabt hätte. Mit sehr gutem Abitur hätte er ganz ohne Probleme Germanistik studiert oder Soziologie und anschließend sofort eine Stelle als Lehrer gefunden, eine Frau kennengelernt, geheiratet, zwei Kinder bekommen, ein Haus gebaut. Und er wäre zwei Mal im Jahr in Urlaub gefahren: nach Südfrankreich im Sommer und nach Österreich im Winter. Und ein Engagement für Greenpeace und die örtliche Neusser Tafel hätte da auch noch dringesessen!
Udo steigerte sich nun für mindestens eine Viertelstunde in seinen Traum über einen gelungenen Lebenslauf hinein und kam erst dann wieder zu Besinnung, als er die vorletzte seiner Zigaretten auf geraucht hatte.
„Auch so ein Thema.“, dachte er. Hätte er sich nur nie dazu hinreißen lassen, das Rauchen anzufangen! Er wollte damals nur endlich dazugehören und seinen Außenseiterstatus beenden, aber selbst mit Fluppe im Mund war ihm das nicht gelungen. Aber zumindest im privaten Umfeld hatte er ein paar Bekanntschaften gemacht, die sich mit ihm abgaben.
Sie rauchten alle und tranken auf Partys Unmengen von Alkohol und Udo hatte jahrelang so nach Zuwendung gelechzt, dass er alles getan hätte, den Respekt seiner zweifelhaften Freunde zu erwerben! Und so hatte er sich später sehr oft hervorgetan im Konsum von Alkohol und Tabak und leider auch im kostenlosen Erwerb dieser Genussgifte! Es war zu der Zeit nicht selten vorgekommen, dass er seiner Mutter heimlich ins Portmonee gegriffen oder im Einkaufsladen eingekauft hatte, ohne zu bezahlen! Und er hatte Glück! Nie war er erwischt worden! Das hatte ihm im Bekanntenkreis den Ruf eines Helden eingebracht und Udo hatte diese Rolle sichtlich genossen. Mit sechzehn rauchte er dann schon ein Päckchen Zigaretten am Tag und bis zum heutigen Tag konnte er die Finger nicht vom Nikotin lassen! Von seiner Mutter, die immer noch in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinen ehemaligen Freunden lebte, hatte Udo allerdings schon vor einem Jahrzehnt erfahren, dass niemand von ihnen mehr rauchte und alle einen gutbezahlten Job ausübten. Der Gedanke, dass er der Einzige aus der Clique war, aus dem nichts geworden war und der immer noch seine Gesundheit ruinierte, ärgerte Udo und er biss sich, wieder mal wütend auf sich selbst, auf die Lippe.-
Einige Tage später
war auf seiner Etage eine neue Familie eingezogen. Eine junge Frau, ca. 30 Jahre alt und vermutlich alleinerziehend, glaubte Udo, denn er sah sie immer nur in Begleitung ihrer beiden kleinen Kinder, einen dazugehörigen Mann konnte Udo nirgends ausmachen.
Udo beschloss, sich bei der Familie vorzustellen, vielleicht würde sich ja in der Zukunft das eine oder andere nette Gespräch daraus ergeben...
Und so klingelte er am Mittwochabend Punkt 20 Uhr dort an. Es dauerte einige Augenblicke, ehe sich etwas tat hinter der Wohnungstür, schließlich wurde sie einen Spalt breit geöffnet und die junge Frau steckte ihren Kopf aus der Tür.
„Guten Abend“, sagte Udo und hielt ihren abschätzenden Blicken nur mühsam stand. „Ich heiße Udo S, und will mich nur kurz vorstellen“, stotterte er nun. „Ich bin ihr Nachbar.“
„Ja, und?“ fragte die hübsche Dunkelhaarige nun und ihr angewiderter Gesichtsausdruck bohrte sich in sein Herz wie ein Messer.
„Wenn Sie einmal Hilfe benötigen oder den Treppendienst tauschen möchten, können Sie jederzeit bei mir anklingeln.“ Die Frau sagte kein Wort und Udo beendete schließlich das aufgekommene, peinliche Schweigen: „Ich will Sie auch nicht länger stören und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“ Dann drehte er sich um und suchte seine Wohnung auf.-
Getroffen lief er ins Schlafzimmer und stellte sich dicht vor den großen Spiegel: Woran hatte es gelegen, dass er so unmissverständlich abgeblitzt war? War er zu forsch aufgetreten? Oder hatte es mal wieder an seinem schäbigen Outfit gelegen, dass diese Frau, ohne ihn zu kennen, so ablehnend reagiert hatte?
Kritisch prüfend besah er sich sein Spiegelbild nun ganz genau: Da waren die Haare! Viel zu lang und ungepflegt hingen sie ihm bereits bis zu den Ohrläppchen zottelig herunter! Udos Blick wanderte nun weiter hinunter zu seiner wenig modischen Bekleidung. Der Pullover war noch gut, den hatte er selten getragen, aber die ausgebeulte, verwaschene Jeans und die abgetragenen Schuhe, an denen sich vorne die Sohle gelöst hatte machten schon einen verdammt ärmlichen Eindruck...!
Nicht mal für ein paar gebrauchte Klamotten von eBay reichte sein Budget! Immer das verfluchte Geld! Kein normaler Mensch und schon gar nicht einer vom anderen Geschlecht, wollte etwas mit einem armen Schlucker zu tun haben! Udo setzte sich ins Wohnzimmer und hing Kette rauchend wieder seinen Gedanken nach:
Seit er denken konnte, hatte er mit den Frauen Pech gehabt! Schon seine erste Freundin hatte ihn nach einiger Zeit für einen Geldverdiener sitzenlassen. „Geh arbeiten, sonst bist Du mich los!“ hatte sie ihn aufgefordert und: Er hatte es versucht. Ohne Berufsausbildung hatte er sich als Hilfsarbeiter auf dem Bau verdingt, aber er war dort kläglich gescheitert. Nicht nur, dass er die Akkordarbeit nicht geschafft hatte, er war auch noch ununterbrochen den Zoten seiner Kollegen ausgeliefert!
Er war nicht geachtet und nicht für voll genommen und als man für den Knochenjob jemand Anderen gefunden hatte, wurde er entlassen! Wie ein Versager war er sich vorgekommen, aber seine Freundin hatte kein Verständnis für seine Lage. Klammheimlich hatte sie sich einen neuen Freund gesucht und ihn dann vor vollendete Tatsachen gestellt. Später hatte Udo dann erfahren, dass seine Freundin von dem Neuen schwanger war und wohl geheiratet hatte..
Ja, sie hatte einen Ernährer gefunden, dachte Udo jetzt und immer noch kam Wut auf bei dem Gedanken an seine Erste.
Ein andermal hatte er geglaubt mehr Glück zu haben. Er hatte eine Freundin gefunden, von der er meinte, dass wohl so einige Männer ihn darum beneideten, doch kaum hatte sie ihn bei ihren Eltern vorgestellt, war alles aus! Ungeniert hatten sie sich darüber mokiert, dass er keine Berufsausbildung hatte und als Udo erwähnte, dass er sehr gern eines Tages heiraten würde und Kinder haben, war dem Vater der Kragen geplatzt: „Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Wollen Sie von Luft und Liebe leben oder wovon wollen Sie die Familie ernähren? Leisten Sie erst mal was, damit Ihre Kinder später mal mithalten können und nicht Däumchen drehen müssen, während andere Kinder in den Urlaub fahren.“
„Udo hat nur das Geld nicht, sich eine anständige