Es war 13 Uhr, als sich Udo langsam auf das ihm bevorstehende Bewerbungsgespräch vorbereitete. Schon während er duschte, überlegte er sich, wie er dem Personalchef am besten seine langjährige Arbeitslosigkeit erklären konnte: Wenn er den Job haben wollte, durfte er keineswegs seine physisch und psychisch instabile Gesundheit erwähnen, dachte er. Seine Depressionen zu verschweigen wäre kein Kunststück, aber was war mit seinem chronischen Husten? Oft genug hatte der Arzt ihn gemahnt, endlich das Rauchen aufzugeben, aber Udo konnte es einfach nicht lassen! Zu stark war die Sucht und bisher hatten ihn weder monatelange Schlafstörungen noch Ohnmachtsanfälle, die ihn eben wegen des ständigen Dauerhustens quälten, von seinem Laster abhalten können!
Doch dieses Mal, so schwor sich Udo, würde sich alles zum Guten wenden! Wenn er den Job hätte, würde ihm sowieso die Zeit fehlen, ununterbrochen zu rauchen, dachte er und vielleicht konnte er ja sogar Anschluss finden bei seinen zukünftigen Kollegen. Während er sich nun frische Wäsche aus dem Schrank holte, malte er sich seinen nächsten Geburtstag aus: Viele Freunde wollte er dann einladen und der Arbeitsplatz wäre der ideale Ort, Menschen kennenzulernen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Seine jahrelange Armut, seine Einsamkeit im sozialen Abseits –das sollte nun ein schnelles Ende haben!
Udo war plötzlich beseelt von einem unerschütterlichen Optimismus. Alles würde sich zum Besten wenden! Seine Zukunft schien ihm mit einem Mal rosarot und er verbat sich jeden aufkommenden Zweifel, zu lange hatte er auf eine Chance wie diese gewartet...-
Ein starker Regen hatte den Tag begleitet und Udo war völlig durchnässt, als er das relativ kurze Stück Fußweg von der Bushaltestelle hin zur Zeitarbeitsfirma T. zurückgelegt hatte. Zwischen mehreren Arztpraxen, einer Immobilienfirma und einem Sonnenstudio war auch Udos Firma ausgewiesen, sie befand sich laut Hinweisschild im 3.Stockwerk rechts.
Udo zögerte. Eine Viertelstunde hatte er noch Zeit bis zum Vorstellungstermin und so nutzte er die verbliebene Zeit, sich noch eine Zigarette anzustecken. Um seine Nervosität zu bekämpfen - wie er sich Glauben machte.-
Um Punkt 15 Uhr
klingelte Udo S. bei Zeitarbeitsfirma T. und er stand keine halbe Minute vor der Tür, da wurde ihm aufgetan. Ein elegant gekleideter, gut 1.90m großer Mann hatte ihn mit den Worten: „Sie sind sicher Herr S.“ in Empfang genommen und ehe Udo etwas erwidern konnte, wurde er auch schon in das kleine Personalbüro gebeten. Kaum hatte Udo Platz genommen, wurde ihm von Herrn T. ein Personalbogen vorgelegt. „Den füllen Sie bitte aus“, wies der Chef an und Udo machte sich sogleich daran, alle Fragen, die auf dem Bogen gestellt waren, nach bestem Wissen zu beantworten. Seinen vollständigen Namen wollte man wissen, Wohnort, Familienstand, Krankenkasse und Geburtsort. Haben Sie Ihren Wehrdienst absolviert und: Sind Sie vorbestraft? hieß es weiter. Rasch hatte Udo seine persönlichen Daten angegeben, aber bald wurden dort Fragen gestellt, die Udo in Konflikte bringen konnten, egal wie er sie beantwortete: Sind Sie gesundheitlich eingeschränkt?
Udo wusste genau, dass er sehr wohl eingeschränkt war, körperlich und auch psychisch aber sollte er e h r l i c h antworten? Keine seiner Krankheiten war bisher von einem Arzt als Handicap eingestuft worden! Wahrscheinlich war seine persönliche Einschätzung nicht maßgeblich, dachte er und wenn er jetzt mit „Ja“ antwortete und seine Gebrechen zu Protokoll gab, wäre wohl nicht nur der Job weg, sondern es könnten ihn auch weitere Sanktionen der Arge treffen, wenn diese davon erführe: „Sie werden mich zum Amtsarzt schicken,“ dachte Udo. „Und die werden mich garantiert für gesund erklären.“ Dann hätte er gelogen!
Durfte er mit „Nein“ antworten? , überlegte er. Wenn er nun wieder mal an einer Psychose erkranken würde und die Firma bekäme heraus, dass dies nicht das erste Mal war, könnte das wohl unweigerlich eine Kündigung zur Folge haben! Und ob da die Arge kulanter reagieren und ihm anstandslos Geld aus ihrem Leistungstopf zahlen würde, daran hatte er seine Zweifel. Man könnte ihm eine Mitschuld an der Kündigung wegen unwahrer Angaben geben.
„Schwamm drüber“, dachte er schließlich, „ich werde es riskieren, mit Nein zu antworten!“. Vielleicht waren die zukünftigen Kollegen nett und das Rauchen hatte er ja auch schon etwas eingeschränkt... -
Sind Sie zur Nachtschicht und Sonntagsarbeit bereit, sind Sie zeitlich flexibel , ungebunden und einsetzbar im gesamten Bundesgebiet, sind sie bereit Überstunden zu leisten und Akkordarbeit?
Ja, ja, ja, ja, ja! Udo musste nicht nur wollen, er wollte auch und das unbedingt und darum schob er alle Bedenken beiseite und schließlich hatte er das lange Formular ausgefüllt und dem Chef herüber gereicht.
Herr T. begutachtete den Personalbogen, legte ihn schließlich beiseite und wandte sich nun Udo zu: „Herr S., wir können Ihnen Arbeit in einer kleinen Elektronikfirma bieten, es handelt sich dabei um die Bestückung elektronischer Bauteile auf Platinen“, sagte der Mann. „Sind Sie motorisiert?“
„Nein“, antwortete Udo S., „ich bin auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen.“
„Das Problem ist, die Firma liegt im Gewerbegebiet von Grevenbroich. Aber ich denke: Vom Hauptbahnhof Neuss ist die Verbindung nach Grevenbroich ja sehr gut, es fahren alle Nase lang S-Bahnen dorthin. Wenn Sie Interesse haben, machen wir den Arbeitsvertrag gleich fertig und sie können Montag anfangen...“
Udo begann, innerlich zu jubeln. So einfach war das also: Man füllte ein Papier aus und schwupp-diwupp hatte man einen Arbeitsplatz! Und die unangenehmen Fragen nach irgendwelchen Arbeitszeugnissen vorheriger Arbeitgeber waren auch ausgeblieben!-
Der Chef kramte einen Vertrag aus der Schublade und begann, ihn auszufüllen. „Stundenlohn sind 6,00 Euro brutto“, sagte er nebenbei, „in den ersten 3 Monaten zahlen wir allerdings nur 5.40 Euro. Außerdem ziehen wir Ihnen eine Kaution von 30 Euro für Sicherheitsschuhe vom ersten Lohn ab. Die bekommen Sie aber wieder, wenn Sie bei uns aufhören.“
5,40 Euro. Das war verdammt wenig! Im Kopf rechnete er sich schnell seinen ungefähren Wochenverdienst aus: 5.40 Euro multipliziert mit vermuteten 40 Wochenstunden, das waren:216 Euro brutto. Davon ging dann wohl noch so einiges an Sozialabgaben ab, dachte Udo ernüchtert. Viel mehr als Hartz 4 war das auch nicht, aber trotzdem: Diese Chance wollte er nutzen und alles, wirklich alles war ihm lieber als diese verfluchte Abhängigkeit vom Staat!
Herr T. reichte ihm jetzt den Vertrag zur Durchsicht und Unterschrift.
Udo las: Früh- und Spätschicht sollte er machen. Arbeitsbeginn der Frühschicht war 6.00Uhr morgens. Wie um alles in der Welt sollte er bis 6.00 Uhr in der Früh im Gewerbegebiet Grevenbroich sein? Er wohnte in einem Vorort und der erste Bus zum Bahnhof Neuss fuhr erst gegen 5.45 Uhr.
Er würde das Fahrrad nehmen zum Bahnhof, überlegte er, dann wäre es zu schaffen.- Urlaubs- und Weihnachtsgeld war nicht vorgesehen, ebenfalls keine Sonderzulagen für Überstunden und eventuelle Nachtarbeit, alles war mit 6.00 Euro brutto in der Stunde abgegolten.
26 Urlaubstage standen Udo laut Vertrag zu, immerhin waren das 5 Wochen. Punkt für Punkt ging Udo den Vertrag durch und obwohl er etwas enttäuscht war vom finanziellen Aspekt, schluckte er die Kröte und unterzeichnete.
Danach unterwies ihn der Chef in den Sicherheitsbestimmungen des gewerblichen Betriebs, händigte ihm die Sicherheitsschuhe und ein paar Stundenzettel aus und entließ ihn mit der Hoffnung auf gute Zusammenarbeit aus seinem Büro.-
Udo schnappte tief Luft, als er wieder draußen war, dann zündete er sich eine seiner selbst gestopften an: Der Vertrag hatte es in sich! Das waren ja Stundenlöhne wie für einen 16 jährigen Schüler!
Der Traum, sich von seinem Lohn ein wenig anzusparen, war jedenfalls geplatzt. Desillusioniert lief Udo durch den immer noch strömenden Regen zur Bushaltestelle.-
Sonntagnachmittag regten sich in Udo die ersten Bedenken, ob er dem Job gewachsen sein würde: Platinen bestücken, das erforderte doch sicher eine gewisse Fingerfertigkeit. Ob er wohl Grundkenntnisse der Elektronik benötigte?, fragte er sich bange, dann aber überwog die Hoffnung. „Die Arbeit muss zu schaffen sein, man muss es nur wollen!“, redete er sich ein und dann stellte er sich vor,