„Nun, Ihr seid der Herr“, brummte der Gehilfe. „Ich wollte es nur erwähnt wissen.“
„Schön, dann packt ausreichend Lederriemen ein und wässert sie gut vor dem Binden“, wies Hemrenus an. „Ich nehme eure Wollkrallen schon mit zur Südweide, dort treffen wir uns dann.“
Hemrenus hatte kein sonderliches Talent dafür, mit Holz zu arbeiten, obwohl es nicht schwierig war, einen Weidezaun zu setzen oder auszubessern. In den Ebenen der alnoischen Provinzen gab es eine Unzahl kleiner und großer Waldgebiete und somit reichlich Holz. Man konnte einfach eine ausreichende Zahl dünner Stämme fällen, sie entasten, und dann zu Pfosten und Stangen verarbeiten. Ein Hornviehzaun musste eine gute Länge hoch sein, und damit er stabil beschaffen war, grub man die tragenden Pfosten genauso tief in den Boden ein. Um die Querstangen zu befestigen, benutzte man Leinen, Lederriemen oder geschmiedete Nägel. Leinen wurden aus Pflanzenfasern geflochten, Nägel in den Dorfschmieden gefertigt, und für beides hätte Hemrenus ein paar goldene Schüsselchen aus seinem Beutel holen müssen. Lederriemen ließen sich hingegen aus Hornviehhaut schneiden, und auf jedem Hornviehhof gab es gelegentlich totes Vieh. So ließ er seine Weidezäune mithilfe der kostenlosen Lederriemen errichten. Man musste nur darauf achten, dass die Riemen in feuchtem Zustand gebunden wurden. Sobald sie trockneten, zogen sie sich zusammen und sorgten so für eine unverrückbar feste Verbindung. Nachteilig war allerdings, dass das Leder im Laufe der Jahre brüchig wurde.
Die beiden Gehilfen gingen mit Hemrenus zum Lagerschuppen hinüber. Während die Männer einen Sack mit langen Lederriemen, eine Säge und ein Schlageisen aus den Regalen nahmen, warf ihr Herr sich mehrere leere Säcke über die Schulter und hängte sich drei Wollkrallen an den Gürtel. Es waren kammartige Eisen mit einem langen Handstiel, mit denen man durch das Fell des Hornviehs schaben und so die Winterwolle herauskratzen konnte.
Dann trennten sich die Männer, und Hemrenus ging mit beschwingtem Schritt den Pfad entlang, der zur Südweide führte. Als er vor Jahren einen Standort für seine Hornviehzucht gesucht hatte, hatte er sich dafür entschieden, sie auf einem Hügel zu errichten. Er schätzte es, über das Land zu blicken und dabei ein Auge auf seine Herde zu haben. Es war eine bescheidene Herde von wenigen Hundert Tieren, doch sie sicherte ein gutes Einkommen, und die relativ geringe Anzahl erlaubte es Hemrenus, den Aufwand für die Weidezäune in überschaubaren Grenzen zu halten. Alle vier Weiden besaßen Tore auf der dem Hof zugewandten Seite, und zwischen der Nord- und der Westweide befand sich der Pfad, der die Anlage mit dem Dorf verband. Zwei der grasbedeckten Flächen verfügten über natürliche Viehtränken, nämlich einen kleinen Teich und einen Bachlauf. Die Wasserstellen der beiden anderen Weiden mussten über den Ziehbrunnen und das Rohrsystem gefüllt werden. Diese Flächen wurden allerdings nur genutzt, wenn die anderen zu weit abgegrast waren.
Die Herden des Hornviehs waren es gewohnt, ungehindert durch die Provinzen zu wandern, und die Züchter hatten einige Ideen entwickelt, um sie in ihrer Nähe zu halten. Dazu gehörte auch, die Vorderläufe der Leitbullen mit kurzen Leinen zu fesseln, sodass sie nur kleine Schritte machen konnten. Eine Tätigkeit, die Hemrenus gerne seinen Gehilfen überließ, denn die gehörnten Tiere zeigten sich in der Regel wenig begeistert, und allein der Anblick einer „Laufleine“ konnte den Kehlsack eines Bullen zum Blähen bringen.
Unter Hemrenus, in der südlichen Senke, graste die Herde friedlich und füllte sich die Bäuche mit dem saftigen Frühlingsgras. Was vorne als frisches Grün in das Hornvieh hineinwanderte, kam hinten als Fladen wieder heraus. Wurden sie getrocknet, so gaben sie im Winter brauchbares Brennmaterial ab. Es mochte ein wenig riechen, doch es ersparte das Schlagen von Holz und machte somit weniger Arbeit. Hemrenus wusste es zu schätzen, wenn etwas wenig Arbeit machte oder sich so kostengünstig selbst vermehrte, wie es das Hornvieh tat.
Der Pfad, den der Hornviehzüchter nutzte, hob sich kaum vom übrigen Untergrund ab. Das Hornvieh stand die ganze Zeit auf den Weiden, und es kam kaum ein fahrender Händler zum Hof, dessen Fuhrwerke den Weg zerfurcht hätten. Überall wucherten Gras und Kräuter, zeigten sich die bunten Tupfen der Blumen. An einigen Stellen der Südweide hatten das Vieh bereits sichtlich alles gerupft, was sie als essbar erachteten. Das dicke Gras der Ebenen wuchs rasch und saftig, auch dies ein Umstand, den der Alnoer sehr begrüßte.
Seine Blicke schweiften umher, und er sog die Eindrücke des Frühlings in sich auf. Dies war sein Land, seine Hornviehzucht, und er war stolz auf das, was er in den wenigen Jahren erreicht hatte. Nun, genau genommen war dies noch immer das Land des Königs, doch der regierte in Alneris und würde wohl kaum persönlich seine Fahne über dem Hof aufpflanzen. Im Gegenteil, des Königs Erlass garantierte ihm die Nutzung des Landes, auch wenn es im Besitz der Krone verblieb.
Hemrenus beschattete die Augen und blinzelte zur Sonne empor. Es würde ein klarer und sonniger Tag werden. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, und der Geruch der Kräuter und Blumen mischte sich mit dem des Hornviehs. Ein guter Tag, ein wahrhaftig guter Tag, denn der Frühling war endlich da und verdrängte die Erinnerungen an den langen und unfreundlichen Winter.
Ein leises Grollen wurde hörbar.
Das Geräusch war so leise, dass Hemrenus es zunächst nur unterschwellig wahrnahm. Eher unbewusst hob er erneut den Kopf und betrachtete den Himmel. Klar und wolkenlos, wie er an einem schönen Frühlingstag sein sollte. Dabei hätte Hemrenus schwören können, für einen Augenblick ein fernes Donnergrollen gehört zu haben.
Da war es wieder, und diesmal war es laut genug, die Aufmerksamkeit des Mannes endgültig auf sich zu ziehen. Ein leises Grummeln wie von einem fernen Gewittersturm. Doch nirgends gab es Anzeichen von Wolken, nicht einmal am Horizont.
Das Grollen verstummte nicht. Es war merkwürdig gleichmäßig und schwoll an. Es erinnerte auf seltsame Weise an den Klang von eisenbereiften Rädern schwerer Frachtwagen auf dem Steinpflaster einer Straße.
Erneut beschattete der Alnoer seine Augen und blickte nach oben. Jetzt, da das Geräusch anhielt, konnte er ihm eine Richtung zuordnen. Er sah nach Osten, blinzelte gegen die Sonne. Täuschte er sich oder war dort, im Gleißen der Sonne, ein weiteres grelles Licht zu sehen?
Hemrenus konzentrierte sich, denn er war überzeugt, dass er dort etwas gesehen hatte, auch wenn er nicht wusste, was das sein mochte. Ein ungewöhnlicher Fleck, der pulsierte und grelles Licht ausstrahlte. Seine Augen begannen zu tränen, er schloss sie geblendet und tupfte mit dem Ärmel darüber. Als er sie wieder öffnete, war das Grollen noch lauter geworden und verwandelte sich langsam in ein Pfeifen.
Der Viehzüchter sah etwas, das einem sehr hellen Stern ähnelte, von denen man so viele in der Nacht sehen konnte. Doch jetzt war es heller Tag. Das Licht dieses Sterns flackerte und pulsierte und schien zwischen Gelb und Orange zu wechseln.
„Was, bei den Finsteren Abgründen …?“
Das unbekannte Objekt schien sich zu nähern, und das Pfeifen wurde heller, bis es in den Ohren schmerzte.
Hemrenus sah sich unsicher um. Er spürte, dass er sich in Gefahr befand, doch wie sollte er sich vor einem Ding in Sicherheit bringen, welches direkt aus dem Himmel fiel?
Die Herde schien die Bedrohung ebenfalls zu spüren oder hörte das sich nähernde Donnern und Heulen. Der Leitbulle machte merkwürdig hüpfende Sätze, da er von der Lauffessel behindert wurde, während die anderen Tiere auseinanderstoben. Sie schienen ebenso wenig zu wissen, wie sie sich schützen konnten, wie ihr Besitzer. Einige rannten panisch gegen den Weidezaun, immer wieder, bis der obere Querholm brach. Die ersten Tiere setzten auf die andere Seite über, andere folgten, und dann schien es kein Halten zu geben.
Hemrenus hingegen war wie gelähmt. Er starrte in den Himmel hinauf und erkannte nun einen Feuerball, der sich ihm näherte. So langsam, als bliebe die Zeit stehen, und doch mit tödlicher Unaufhaltsamkeit. Der entsetzte Mann öffnete den Mund zu einem Schrei.