Das Volk der Zwerge lebte in den fruchtbaren mittleren Ebenen von Ackerbau und Handel. Die „kleinen Herren“ waren als Schreiner berühmt und ihre zierlichen und doch robusten Möbel wurden in allen Reichen begehrt. Sie waren gewiss kein Volk von Kämpfern, und ihre einfachen Jagdbogen und Lederwämser erwiesen sich als schlechtes Rüstzeug gegen den heranstürmenden Feind. Die Zwerge lernten zu kämpfen und wehrten sich erbittert, während die verbliebenen Menschenreiche versuchten ihre Kräfte zu sammeln. So war das kleine Volk größtenteils auf sich allein gestellt und stand vor seinem Untergang. Den tapferen Zwergen blieb keine andere Wahl, als die alte Heimat aufzugeben. Ein großer Teil ging in die Berge und schuf dort die unterirdischen Höhlen und Kristallstädte. Hier entstanden die Legenden der Zwerge als Steinmetze und Krieger. Ein anderer Teil suchte seine Heimat in den schwimmenden Clanstädten auf den Meeren. Die Erinnerung an diese Ereignisse brannte sich unauslöschlich in das Bewusstsein der Zwerge und machte sie für die Zukunft zu unerbittlichen Kämpfern.
Der Krieg zwischen den freien Ländern einerseits, und dem Schwarzen Lord und seinen Orks andererseits, tobte über viele Jahre an einer Front, die Tausende von Längen maß. Es gab kleine Scharmützel und gewaltige Schlachten, die Leben auslöschten und das Land zerstörten. Erst als sich Elfen und Menschen zum entscheidenden Kampf stellten, gelang es, die Legionen zu vernichten und den Schwarzen Lord hinter das Gebirge zurückzutreiben.
Die Folgen des großen Krieges waren furchtbar.
Rumak schien untergegangen, die Reiche von Jalanne und Rushaan waren ausgelöscht, und vom nördlichen Julinaash kamen keine Nachrichten mehr. Nur das Königreich von Alnoa und das Pferdevolk hatten von den menschlichen Völkern überlebt. Geschunden und nahezu vernichtet, und doch mit der menschlichen Eigenschaft versehen, nicht aufzugeben und neu zu erstarken.
Jahrtausende vergingen, in denen Frieden herrschte. Aber die Folgen des Krieges veränderten das alte Land des Pferdevolkes. Sand eroberte die fruchtbaren Ebenen und ließ die Wälder versinken. Mit dem Sand kamen die Barbaren, und der Kampf gegen die Sandkrieger einte das Pferdevolk. Doch der Feind war zu stark und die Pferdelords mussten weichen. Sie fanden ihre neue Heimat in jenen Ebenen, aus denen der Krieg die Zwerge vertrieben hatte. Die Clans des Pferdevolkes gründeten ihre Marken. Sie waren ein traditionsbewusstes Volk, dem das bescheidene Leben genügte und welches seine Wehrhaftigkeit in seinen Kämpfern, den Pferdelords, und auf dem Rücken der Pferde fand.
Das Königreich von Alnoa erholte sich ebenfalls und begann sich erneut zu entwickeln. Brennsteinmaschinen stampften in den Städten und trieben die Schiffe an, Dampfkanonen schützten Stadtwälle und Festungen.
All die Jahrtausende vergingen, und aus der Erinnerung an den großen Krieg gegen den Schwarzen Lord und seine Orks, wuchsen Legenden. Legenden, die an die stete Bedrohung durch die Finsternis mahnten und doch allmählich zu ihrem Vergessen beitrugen.
Dann, vor dreißig Jahren, erhob sich die Finsternis mit neuer Macht.
Unzählige Legionen von Orks schienen unter dem Befehl des Schwarzen Lords zu stehen.
Erneut traten ihnen Menschen und Elfen entgegen. In erbitterten Kämpfen wurden die Angriffe abgewiesen, doch die entscheidende Schlacht war noch nicht geschlagen. So belauerten sich die Feinde an den wenigen Pässen, die ein Vordringen ermöglichten. Die freien Reiche waren zu schwach, um in das Land des Schwarzen Lords vorzustoßen, zumal das Volk der Elfen die alte Heimat verlassen hatte und zu neuen Ufern aufgebrochen war. Doch ausgerechnet jetzt zeichnete sich ab, dass der Herr der Finsternis auf eine Weise erstarkte, die man nie zuvor erlebt hatte. Und dieses Mal verfügte er über einen schrecklichen Verbündeten – die Rumaki.
Viele der fremden Menschenkrieger waren heimlich über die Grenze nach Alnoa eingedrungen, und obwohl man einige hatte fangen oder töten können, hielten sich andere verborgen, und ihre Augen und Ohren waren Teil einer Bedrohung, der man nie zuvor begegnet war.
Kapitel 3
Von draußen drang das Zwitschern der Vögel herein.
Hemrenus blinzelte kurz, schloss erneut die Augen und gönnte sich einen Moment der Ruhe, in dem er dem fröhlichen Gesang lauschte. So lange hatte er diese Klänge vermisst. Endlos erscheinende Monate, in denen Schnee und Eis die Ostprovinz von Alnoa in ihrem Griff gehalten hatten. Hemrenus mochte den Winter nicht. Weder den trostlosen Anblick kahler Bäume, noch das endlos erscheinende weiße Tuch, welches die Landschaft bedeckte, oder die Kälte und den eisigen Wind, der vom Gebirgszug des Uma´Roll herabwehte. Oft hatte er sich während jener Zeit am frühen Morgen wohlig auf seiner Bettstatt geräkelt und die Decke enger um sich gezogen, weil er davor zurückscheute, die Wärme zu verlassen und sich den Unfreundlichkeiten des Winters auszusetzen.
Nein, er mochte den Winter nicht, in dem sein Hornvieh kaum genug Futter fand, und er und seine Gehilfen hinaus auf die verschneiten Weiden mussten, um die kostbaren Tiere zu versorgen. Der vergangene Winter war besonders lang und hart gewesen, zumindest empfand Hemrenus dies so, und der Schnee hatte höher gelegen, als in all den Jahren zuvor. Der unbarmherzige Wind verharschte die weiße Oberfläche, und viele der Rinder verletzten sich die Beine und Mäuler, wenn sie nach Futter suchten. Einige der Kälber hatten es nicht überstanden, und selbst sein prächtiger Zuchtbulle hatte nur knapp überlebt.
Doch das war nun vorbei.
Endlich.
Der Frühling hatte das Reich von Alnoa endgültig erreicht.
Die weiten Ebenen und Wälder der Ostprovinz erblühten wieder in üppigem Grün. Zahllose Wildblumen und Kräuter zauberten bunte Tupfer auf das Gras, Insekten schwirrten umher, und der Gesang der Buntflügel zauberte ein Lächeln auf Hemrenus’ Gesicht. Seufzend richtete er sich auf und blinzelte in Richtung des Fensters seiner Schlafkammer. Viel war nicht zu sehen, denn der Rahmen war mit geölter Darmhaut bespannt und ließ gerade genug Helligkeit herein, um sich ausreichend orientieren zu können. Der fahrende Händler aus Alneris hatte längst die Klarsteinscheiben geliefert, um die Häute zu ersetzen, doch bisher konnte sich der Hornviehzüchter nicht dazu durchringen, mit dieser Arbeit zu beginnen. Das Vieh ging vor, und wenn er abends vom Tagwerk nach Hause kam, war er froh, sein müdes Haupt zur Ruhe betten zu können.
Hemrenus schwang die Beine von der Bettstatt und erhob sich gähnend. Es erforderte ein wenig Mühe, sich zu erheben, denn das nächtliche Ruhelager wies inzwischen eine deutliche Mulde auf. Es bestand aus einem hölzernen Rahmen, in den zahlreiche Löcher gebohrt waren. Durch diese verlief eine Leine, die ein Gitter bildete, auf dem die Polster aufgelegt wurden. Um eine gute Bettstatt zu errichten, wurde die Leine normalerweise vorher mit Gewichten behangen, damit sie sich schon vor dem Verschnüren dehnte. Hemrenus hatte sich diese Arbeit erspart, und so gab die Leine in den vielen Nächten allmählich nach. Eigentlich müsste er die Bettstatt neu schnüren, doch im Grunde empfand er die Mulde als sehr bequem und gemütlich. Vor allem im Winter, wenn es draußen kalt war.
Hemrenus reckte sich, gähnte und kratzte sich dann ausgiebig, bevor er zu der Kommode mit der Waschschüssel schlurfte. Er hatte in seinem Unterzeug geschlafen. Eine Angewohnheit aus dem Winter, wo es durchaus praktisch gewesen war. Auch jetzt empfand er dies als nützlich, denn es ersparte ihm am Morgen das umständliche Verschnüren der Beinlinge mit dem langen Hemd. Er schnüffelte kurz an seiner Tunika, zuckte die Schultern und streifte sie dann über. Für die Arbeit mit dem Hornvieh brauchte er keine saubere anzuziehen. Ein paar Stunden auf den Weiden, und sie wäre ohnehin verschmutzt.
Hemrenus war nicht immer Hornviehzüchter gewesen. Er war dem Ruf des Königs gefolgt, oder vielmehr dem der goldenen Schüsselchen, die der König jenen zahlte, die von der Stadt hinaus aufs Land zogen. Die Städte und ihre Bevölkerung wuchsen, und dies galt auch für den Bedarf an Nahrungsmitteln, vor allem an Fleisch. Letzteres wurde gesalzen, gewürzt und dann getrocknet, um in den Vorratsspeichern des Reiches für Notzeiten gelagert zu werden.
Eine Hornviehzucht einzurichten, war im Grunde recht einfach und erforderte nicht viele Mittel. In den weiten Ebenen der Provinzen gab es viele kleine Herden von wildem Hornvieh,