Auferstanden aus Ruinen. Florian Lettre. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Florian Lettre
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742771698
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sagt nichts mehr zu dem Mädchen. Er weiß nicht, wie die Schüler zueinander stehen.

      „Heine lebte von 1797 bis 1856. Er ist also fast sechzig Jahre alt geworden. Als er das Gedicht schrieb, ging er auf die fünfzig zu. Er lebte in Paris. Drei Jahre später begann die Matratzengruft.“

      „Hat er Karl Marx gekannt?“ fragt ein Mädchen. Florian möchte das Mädchen umarmen. Diese Frage passt genau zu diesem Gedicht. Er sieht die Schüler an.

      „Hat er Marx gekannt?“ Er sieht das kluge Mädchen an.

      „Hat er ihn gekannt?“ Das Mädchen schüttelt den Kopf.

      „Sie werden es uns gleich sagen.“

      „Die beiden haben sich gekannt. Das Gedicht wurde im „Vorwärts“ veröffentlicht, den Marx herausgab. Es wurde als Flugblatt in den Gebieten des Weberaufstandes verteilt. Wie geht das Gedicht weiter?“

      Der Schüler stand immer noch vorn. Er fuhr fort:

      „Ein Fluch dem Gotte zu dem wir gebeten in Winterkälte und Hungersnöten; wir haben vergebens gehofft und geharrt, er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt – wir weben, wir weben!“

      Ein Mädchen meldet sich.

      „Das ist der erste Fluch. Heine hatte drei Flüche angekündigt. Die Weber verfluchen Gott.“

      „Was meint ihr dazu?“ Nach einer Pause sagt das gleiche Mädchen.

      „Mich wundert das nicht. Die Weber haben gebetet und sind enttäuscht worden. Es gibt ja auch keinen Gott.“ Florian schaut etwas erschrocken in die Runde.

      „Religion ist in unserem Staat frei. Einige von ihnen werden vielleicht religiös sein. Die sollen damit nicht verletzt werden.“

      „Was richtig ist, muss richtig bleiben“, sagt das gleiche Mädchen. „Gott gibt es nicht.“ Florian möchte keine Diskussion über Gott. Er will wieder zu dem Gedicht.

      „Gott zu verfluchen – das war damals sehr gewagt. Heine ist in dieser Beziehung kompromisslos. Wer wird noch verflucht?“ Der Junge, der weiter vorn steht, fährt fort.

      „Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, den unser Elend nicht konnte erweichen, der den letzten Groschen von uns erpresst, und uns wie Hunde erschießen lässt – wir weben, wir weben.“ Wieder meldet sich das Mädchen, das nicht an Gott glaubt.

      „Das ist der zweite Fluch. Gegen den König.“

      „War das gefährlich, was Heine hier sagt?“

      „Das war sehr gefährlich. Und den König als König der Reichen zu bezeichnen. Heine wusste Bescheid über diese Gesellschaft.“ Florian winkt dem Schüler weiterzulesen.

      „Ein Fluch dem falschen Vaterlande, wo nur gedeihen Schmach und Schande, wo jede Blume früh geknickt, und Fäulnis und Moder den Wurm erquickt – wir weben, wir weben.“ Florian sieht die Schüler an.

      „Der dritte Fluch. Auf das Vaterland. Das ist wohl das Schlimmste, was er machen konnte. Das Vaterland war heilig. Das Vaterland zu verraten war sehr schlimm. Ganz schön mutig. Er war in Paris. Da konnte er das.“ Wieder dieses Mädchen, das nicht an Gott glaubte.

      „War Heine der einzige Dichter, der so etwas sagte?“ fragte Florian. Es wurde nachgedacht.

      „Wie ist es mit Goethe und Schiller? Leben die noch?“

      „Beide waren tot“, sagt ein Junge. „Goethe starb 1833. Schiller weiß ich nicht.“

      „Schiller starb schon 1805“, hilft Florian. „Hätten die beiden so etwas geschrieben?“

      Es melden sich mehrere Schüler.

      „Goethe auf keinen Fall“, sagt eine Schülerin. „Der war geheimer Rat beim Herzog in Weimar.“

      „Und Schiller?“

      „Eher nicht. Der war gegen die französische Revolution.“

      „Also war Heine der Einzige?“

      „Es gibt noch einen anderen. Büchner oder so ähnlich heißt der.“ Ein Mädchen sieht sich fragend um.

      „Georg Büchner“, sagt Florian. „Wann hat der gelebt?“ Keiner weiß es.

      „Bis 1837“, sagt Florian. „Der war also schon tot. Wisst ihr etwas über den?“

      „Der hessische Landbote“, sagt ein Mädchen. „Friede den Hütten, Krieg den Palästen.“ Florian ist begeistert. Er sieht das Mädchen dankbar an.

      „Also?“

      „Es gab noch einen Dichter, der auch die Revolution wollte.“

      „Wann war das mit dem hessischen Landboten?“

      „Keine Ahnung.“

      „1834. Also zehn Jahre vor Heines Gedicht über die schlesischen Weber. Was ist aus dem Weberaufstand geworden? Habt ihr das in Geschichte besprochen?“

      „Das preußische Militär hat den Aufstand niedergeschlagen.“ In diesem Moment klingelt es. Die Stunde ist beendet. Florian ist zufrieden.

      „Ich danke euch für eure Mitarbeit“, sagt er. Die Schüler verlassen das Klassenzimmer. Er geht zu Frau K.

      „Sehr interessant, was sie sich da ausgedacht haben. Ungewöhnlich.“

      „Hätten sie es anders gemacht?“ sagt Florian.

      „Ich denke schon. Aber den Schülern hat es gefallen.“ Sie gehen zusammen ins Lehrerzimmer. Florian hat seine erste Stunde hinter sich. Unterricht kann doch interessant sein. Denkt er. Einige Lehrer erkundigen sich, wie seine erste Stunde war. Frau K. lobt seinen Unterricht. Als er in der S-Bahn sitzt, ist er müde. Mehrmals schläft er für kurze Zeit ein. Zu Hause telefoniert er mit Vera. Er muss ihr alles berichten und ganz genau. Sie will alles wissen.

      17.

      Sie hatten sich zum Wochenende verabredet. Florian holte Vera ab und dann fuhren sie zusammen nach P. in den Park. Sie suchten sich eine Bank im Schatten unter einem der großen Bäume. Die junge Frau hatte eine weiße Bluse an und einen hellen Rock. Die dunkelblonden Haare waren wie immer glatt nach hinten gekämmt. Sie wurden von einem Gummiring zusammengehalten. Florian legte seinen Arm um die Schultern der jungen Frau und zog sie an sich. Sie küssten sich. Dann holte die junge Frau ein Buch aus ihrer Tasche.

      „Wir sind nicht zum turteln hier. Der Montag kommt schneller als man denkt.“

      „Und Frau K. Sie sieht immer sehr ernst aus.“

      „Ich glaube sie mag dich. Ich bin etwas eifersüchtig.“

      „Wenn du Frau K. kennen gelernt hast, wirst du nicht mehr eifersüchtig sein. Sie ist eine Art Gouvernante.“

      „Ist sie verheiratet?“

      „Wer sollte sie heiraten?“

      „Ist sie unglücklich?“

      „Ich weiß nicht. Ich glaube, die Arbeit ist für sie alles.“

      „Damit ist sie ganz von den Schülern abhängig. Wenn die sie nicht mögen, ist sie verloren. Eine gefährliche Situation.“

      „Hast du das in Pädagogik gehabt?“

      „Ja. In Pädagogik.“

      „Ich habe keine Ahnung von Pädagogik. Ich versuche interessanten Unterricht zu machen.“

      „Du bist eben etwas ganz besonderes.“

      „Bin ich ein interessanter Mann?“

      „Der interessanteste, den ich kenne.“

      „Bleibst du bei mir?“

      „Natürlich. Wenn du es willst.“

      „Du bist