Auferstanden aus Ruinen. Florian Lettre. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Florian Lettre
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742771698
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sie Heine?“

      „Sehr. Sie nicht?“

      „Doch. Ich bin immer wieder erstaunt, was der vor über hundert Jahren alles gewusst hat. Andere Dichter sind schwieriger zu vermitteln.“

      „Herder.“

      „Ja. der auch.“ Sie waren jetzt auf dem Weg zum Lehrerzimmer.

      „Wir werden die nächsten Wochen viel zusammen sein“, sagte Frau K.

      „Ich freue mich darauf.“

      „Ich bin nicht beliebt bei den jungen Lehrern.“

      „Sind sie streng?“

      „Eigentlich nicht. Aber ich erwarte, dass die jungen Kollegen sich bemühen.“ In ihrem Gesicht war jetzt ein strenger Ausdruck.

      Im Lehrerzimmer hatten sich zur Hälfte Frauen und zur Hälfte Männer eingefunden. Einige saßen auf ihren Plätzen um den großen Tisch, der in der Mitte stand. Andere standen in Gruppen und unterhielten sich. Frau K. stellte Florian einigen Lehrern vor. Die meisten sahen ihn neugierig und freundlich an. Einige betrachteten ihn kritisch.

      Dann war die Pause vorbei und sie gingen in eine neunte Klasse. Hier ging es um das Nibelungenlied. Nicht so interessant wie Heinrich Heine. Frau K. war strenger. Unaufmerksamkeit wurde sofort unterbunden. Die Antworten sehr kritisch beurteilt. Ein Junge mit mürrischem Gesicht. Macht ungefragt Zwischenrufe. Verhaltenes Lachen. Florian hat manchmal Angst um Frau K. Sie meistert fast alle Schwierigkeiten. Am Ende gehen sie wieder zusammen in das Lehrerzimmer. Sie haben jetzt eine Stunde Pause. Der Direktor setzt sich zu ihnen. Er ist freundlich.

      Florian soll am nächsten Tag in der zehnten Klasse eine Stunde über Heinrich Heine halten. Frau K. wird dabei sein. Er kommt am späten Nachmittag nach Hause. Er isst etwas und setzt sich dann hin. Er hat einen Band mit Gedichten mitbekommen. Er entscheidet sich für „Die schlesischen Weber“. Die Liebesgedichte sind wohl noch nichts für die Schüler. Sie haben die Liebe noch nicht kennen gelernt. Meint er. „Nachtgedanken - Denk ich an Deutschland in der Nacht“ wäre auch geeignet. Er wird sehen, ob ein Gedicht reicht für die ganze Stunde. Er überlegt sich einige Fragen, die er stellen kann. Ob sich daraus eine Diskussion ergibt, weiß er nicht. Man kann so etwas nicht planen. Er wird auf die Situationen reagieren müssen. Es wird seine erste Stunde. Er wird sich in dieses Abenteuer stürzen.

      16.

      Am nächsten Morgen ist er doch etwas aufgeregt, als er in der S-Bahn sitzt, die ihn nach O. fährt. Nun rückt seine erste Stunde immer näher. Er wartet im Lehrerzimmer auf Frau K. Schließlich kommt sie. Sie will die Unterlagen für die Schüler haben. Er hat keine. Sie ist überrascht und sieht ihn missmutig an. Sie gehen durch die Gänge und stehen vor der zehnten Klasse. Frau K. sieht ihn nochmals an und schüttelt bedenklich den Kopf. Sie hören die Stimmen der Schüler. Frau K. öffnet die Tür und nun stehen sie vor den Schülern. Die sind aufgestanden.

      „Bitte setzten sie sich. Herr L. wird heute unterrichten. Bitte Herr L.“ Die Schüler sehen ihn erwartungsvoll an. Ein Mädchen flüstert der Nachbarin etwas zu. Die Nachbarin lacht. Was wird das Mädchen gesagt haben? Florian steht vorn, Frau K. sitzt hinter den Schülern. Er kann jetzt in ihre Gesichter sehen. Sie sehen anders aus als bisher.

      „Ihr habt Heinrich Heine schon etwas kennen gelernt. Wie findet ihr ihn?“ Solche Fragen hat Frau K. nicht gestellt. Die Schüler sind das nicht gewohnt. Sie sehen Florian überrascht an. Was soll das bedeuten? Was hat er vor? Keiner antwortet. Es entsteht eine Pause.

      „Ist er euch sympathisch oder nicht?“ Keiner will antworten. Florian sieht sein Konzept gefährdet. Wenn sich kein Gespräch entwickelt, muss er die ganze Stunde allein reden. Das wird schwierig. Wie soll er eine Stunde über ein oder zwei Gedichte reden. Er spricht ein Mädchen an, das ihm in der Stunde bei Frau K. aufgefallen ist.

      „Was meinen sie?“ Das Mädchen wird rot im Gesicht. Es weiß nicht so recht, was es sagen soll.

      „Wie meinen sie das?“ fragt es zurück. Florian ist froh, dass das Mädchen etwas gesagt hat.

      „Sagen sie einfach, wie ihr Gefühl war als Frau K über das Leben Heines gesprochen hat. Ist ihnen der Dichter sehr fremd? “

      „Es war eine ganz andere Zeit als heute. Wir haben andere Probleme. Wir müssen nicht in andere Länder auswandern. Diese Leute, gegen die Heine gekämpft hat, die haben bei uns nichts mehr zu sagen.“ Ein anderes Mädchen meldet sich.

      „Bei uns kann man auch nicht alles sagen. Die Partei hat immer Recht.“ Die Diskussion geht in eine Richtung, die Florian nicht erwartet hat. Offenbar gibt es Schüler, die nicht mit der DDR einverstanden sind. Er weiß nicht, wie viele es sind. Er hat das Gefühl, dass er eingreifen muss.

      „Man darf etwas nicht verwechseln. Heine hat gegen die bürgerliche Gesellschaft gekämpft, gegen die Unterdrückung der Pressefreiheit. Bei uns hat die Arbeiterklasse die Macht übernommen. Heine könnte bei uns alles sagen und veröffentlichen. Er hätte bei uns den Nationalpreis bekommen.“ Es kommt ihm jetzt etwas primitiv vor, was er gesagt hat. Andererseits will er einfach und klar sprechen. Er ist froh, dass sich zunächst kein Schüler meldet. Er möchte zu dem Gedicht kommen.

      „Es wäre gut, wenn wir einmal ein Gedicht von Heine lesen.“ Florian schlägt das Buch mit den Gedichten auf. Er hat sich ein Zeichen gemacht. „Wer möchte das Gedicht vorlesen?“ keiner meldet sich. Er zeigt auf einen Schüler und bittet ihn nach vorn zu kommen. Der Schüler erhebt sich langsam und geht langsam nach vorn. Er nimmt das Buch. Er ist unsicher.

      „Die schlesischen Weber.“ Er macht eine Pause und spricht dann weiter.

      „Im düsteren Auge keine Träne. Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Deutschland wir weben dein Leichentuch, wir weben hinein den dreifachen Fluch – wir weben, wir weben!“

      „Halt!“ sagt Florian. „Was ist das für ein Bild, das Heine hier entwirft?“ Ein Mädchen meldet sich.

      „Er zeigt die schlesischen Weber in ihrer verzweifelten Situation. Sie werden ausgebeutet. Sie müssen schwer arbeiten und bekommen nur wenig Lohn.“

      „Heine hat das Gedicht 1844 geschrieben“, sagt Florian. Er will helfen, das Gedicht in den historischen Rahmen einzuordnen. „Was war das für eine historische Situation?“

      „1848 war in Deutschland Revolution“, sagt ein Junge.

      „Was war das für eine Revolution? Eine Revolution der Arbeiter oder des Bürgertums?“ Die Schüler überlegen.

      „Die erste Arbeiterrevolution war später“, sagt ein Junge.

      „Wann war die?“

      „Die Oktoberrevolution 1917“, sagt ein Mädchen.

      „War das die erste Arbeiterrevolution?“ fragt Florian.

      „In Paris, die Pariser Commune. Die war früher.“ Es haben sich jetzt schon mehrere Schüler beteiligt. Florian ist zufrieden. Hoffentlich geht es so weiter.

      „Also 1848. Was war das für eine Revolution?“

      „Eine bürgerliche.“

      „War sie erfolgreich?“

      „Nein.“

      „Sind die Weber Arbeiter oder gehören sie zum Bürgertum?“

      „Sie sind Arbeiter.“

      „Was ist das für ein Konflikt, den Heine hier darstellt?“

      „Zwischen Arbeitern und Unternehmern.“

      „Richtig. Wie ist also Heines Gedicht historisch einzuordnen?“

      „Das Bürgertum hatte noch nicht die Macht und trotzdem sieht Heine schon den Konflikt, den das Bürgertum in sich trägt. Der dann später zur Oktoberrevolution geführt hat. Heine ist seiner Zeit voraus.“ Das Mädchen, das Florian als erstes angesprochen