Bis zu den Sommerfeldern würden sie zu Pferd etwa drei Tage brauchen und dann mussten sie dort nach dem Faun suchen. Selbst wenn der ungefähre Aufenthaltsort des Wesens bekannt war, hieß es nicht, dass sie ihn dort auch tatsächlich antreffen würden. Faune streiften durch die Lande, ohne einen festen Wohnort zu haben. Sie mussten sich beeilen, wenn sie die Kreatur rasch auftreiben wollten. Ein schneller Erfolg würde das Vertrauen der Veteres in ihn festigen und sie wohlwollend ihm gegenüber stimmen. Ihm war mulmig zumute bei dem Gedanken, dass der Erfolg seiner Mission davon abhing, ob er in der Vergangenheit alle erforderlichen Zaubersprüche gelernt hatte. Würde er sich außerhalb der Stadt behaupten können? Seit seinem fünften Lebensjahr hatte er Cimala nicht verlassen und davor war er als Sohn einer armen Bauernfamilie aufgewachsen. An den Namen seines Heimatdorfes konnte er sich nicht mehr erinnern. Der Weg in die Hauptstadt des Landes war die längste Reise gewesen, die er in seinem ganzen Leben unternommen hatte. Er hoffte darauf, dass er von den Meistern, die er vor seinem Aufbruch aufsuchen musste, zumindest Hinweise bekommen würde, was ihn erwartete. Es behagte ihm nicht, sich vielleicht wochenlang über die Landstraßen zu bewegen, ohne zu wissen, welche Gefahren dort auf ihn lauern mochten.
Tief in Gedanken versunken, überquerte er den Platz und näherte sich der Bibliothek, die nur den Magiern der Gilden zugänglich war. Das Gebäude aus grauem, vom Regen verwaschenem Stein war wesentlich kleiner als das Hauptquartier, doch es war groß genug, um die Schmalseite des Platzes einzunehmen. Über den davor aufgereihten Marktständen erhoben sich die schmalen, spitz zulaufenden Fenster in den Außenmauern. Luves schob sich zwischen den Menschen hindurch auf das Eingangstor zu, vor dem ebenfalls Wachen postiert waren. Als häufiger Besucher des Hauses war er ihnen bekannt und sie ließen ihn passieren, ohne nach seinem Anliegen zu fragen. Er trat durch das Portal und befand sich in einem Labyrinth aus Regalen. Dort lagerte das gesammelte Wissen der Magier, wurde seit Jahrtausenden an diesem Ort festgehalten und archiviert. Die Luft roch muffig und abgestanden, nach altem Leder, Staub und Tinte. Es herrschte eine dumpfe Stille, in der man nur leise ein Rascheln zwischen den Regalen hörte, wenn jemand eine Seite umblätterte. Meister Bukov und alle Magier, die in dieser Bibliothek tätig waren, achteten darauf, dass es ruhig blieb und die Schüler und Anwärter nicht lauthals schwatzten oder Unfug trieben. Im Gegensatz zu vielen seiner Mitschülern liebte Luves die strengen Regeln, die an diesem Ort herrschten. Die Studienzeit stellte für ihn die angenehmsten Stunden des Tages dar. Eingehüllt in die Stille konnte man den Geist ruhen und die Gedanken schweifen lassen und die Magie auf eine angenehme Weise erfahren und spüren. Einen Zauber auszuüben, stellte sicherlich eine großartige Erfahrung dar, in ihrer urtümlichen Kraft, mitunter sogar Gewalt. Doch hier glichen die Zauber eher einem sanften Fließen. Gefangen zwischen Buchseiten, mittels Schrift und Tinte auf Papier gebändigt, warteten sie darauf, von den jungen Magiern entdeckt zu werden. Im Vorbeigehen strich er über einige Buchrücken und spürte die Energie der darin enthaltenen Zaubersprüche, Flüche und Beschwörungen.
Neben ihm erklang aus einem der Regale das leise, kaum hörbare Summen der Flüche der Sirenen und lud ihn ein zu verweilen. Luves strich sachte und liebevoll über das meergrüne Leder des Buches und das Geräusch verstummte. So sehr er es auch bedauerte, aber jetzt fehlte ihm die Zeit, um ihnen zu lauschen und die magischen Formeln zu studieren. Er war auf der Suche nach Meister Bukov, der sich irgendwo zwischen den Regalen auf einem der drei Stockwerke aufhalten musste. Unter den Jungmagiern kursierte das scherzhafte Gerücht, dass die Bibliothek von Cimala seit der Erschaffung der Welt existierte und der Meister sich seitdem darin aufhielt. Luves beteiligte sich nicht an diesem Spott, denn er schätzte den alten Magier, mochte er den Jüngeren auch griesgrämig und streng gegenübertreten. Solange man sich an dessen Regeln hielt und die umfangreiche Sammlung an Büchern und Pergamenten mit Sorgfalt und Respekt behandelte, kam man gut mit ihm zurecht. Darum sorgte er auch dafür, dass Luves als Bestrafung in der Bibliothek arbeiten musste, anstatt über Wochen die Latrinen reinigen zu müssen.
Suchend blickte Luves in die vielzähligen, versteckten Winkel, wo sich Tische und Stühle befanden, damit die Magier dort ihren Studien nachgehen konnten. Doch soweit er feststellen konnte, war nur einer der Tische belegt. Ein Schüler brütete dort über einem der Bücher mit Zaubersprüchen. Links und rechts von ihm stapelten sich weitere Bände und Folianten. Luves erkannte ihn sogleich, denn er teilte sich mit ihm und zwei weiteren Schülern eine Kammer.
»Kilian«, sprach Luves ihn an, worauf der Vierzehnjährige erschrocken zusammenzuckte.
»Was machst du hier? Musst du nicht an den Übungen für den Schwertkampf teilnehmen?«
Verlegen blickte Kilian auf die aufgeschlagenen Seiten vor sich.
»Meister Zudu hat mich davon freigestellt«, sagte er leise. »Ich soll für die Prüfungen zum Anwärter lernen.«
Luves sah ihn erstaunt an. Er selbst hatte es in den dreizehn Jahren seiner eigenen Ausbildung nie erlebt, dass man Prüfungen angekündigt oder gezielt dafür gelernt hatte. Im Grunde mussten die Schüler und Anwärter an jedem Tag ihr Können beweisen und zeigen, dass sie den hohen Erwartungen gerecht wurden. Der Ehrgeiz und das Verlangen der Schüler sollte damit geweckt werden, die Mitstreiter zu übertrumpfen. Er selbst hatte diesen Ansporn nie gebraucht, da er sich hohe Ziele steckte und an jedem Tag hart daran arbeitete, um sie schnellstmöglich zu erreichen.
Er nahm eines der Bücher zur Hand und musterte den staubigen Einband aus grauem Leder. In silbernen Lettern hatte man auf dem Buchdeckel den Schriftzug »Schnee & Eis« eingeprägt. Wahllos schlug er eine Seite auf und eine kalte, weißliche Dampfwolke stieg von dem alten Pergament auf.
»Sollst du all das hier lernen?«, fragte er verwundert und deutete auf die restlichen Bücher.
Kilian nickte zaghaft. Eine verlegene Röte zog sich über seine Wangen. Luves legte das Buch zurück an seinen Platz. Es war allgemein bekannt, dass der Junge nicht zu den ehrgeizigsten Schülern seines Jahrgangs gehörte. Er war eher zaghaft und schüchtern im Umgang mit anderen, wählte seine Zauber allzu bedächtig aus und war zögerlich in ihrer Anwendung. Dabei verfügte er über ein Potential, um das ihn seine Mitschüler beneideten. Er verstand es nur nicht, es zu nutzen. Aber dass es derart schlimm um sein Können bestellt war, hatte Luves nicht geahnt. Kilian hatte bisher keine der Prüfungen bewältigt, um das Siegel zu erhalten und zu den Anwärtern aufzusteigen. Allmählich lachten selbst die weitaus jüngeren Schüler über ihn, weil er immer noch zu ihnen zählte. Nur wenigen schenkte Kilian sein Vertrauen und Luves war einer von ihnen.
Er lugte über die Schulter des Jungen auf das brüchige Pergament des Buches.
»Die Winterzauber gehören zu den einfachsten Elementarzaubern überhaupt. Schau her.« Luves wartete, bis Kilian sich zu ihm umgewandt hatte, dann legte er seine Hände so zusammen, dass sie einen Hohlraum bildeten.
»Alji Frialitas«, murmelte er und pustete kräftig in seine Hände.
Sein Atem wurde zu eisig kaltem Dampf, wie im tiefsten Winter. Winzige Schneeflocken stoben von seinen Handflächen auf und wirbelten glitzernd durch die Luft. Sie schmolzen in der Sommerhitze und fielen als Wassertropfen auf seine Finger.
»Ich werde niemals ein großer Magier werden, so wie du einer bist«, seufzte Kilian und ließ die Schultern hängen. »Bei dir sieht es so selbstverständlich aus, wenn du die Zauber anwendest. Es scheint dich gar keine Kraft zu kosten.«
»Da täuschst du dich.« Ermutigend klopfte Luves ihm mit seiner fast erfrorenen Hand auf die Schulter. »Es ist alles eine Frage der Übung. Nur mit Studien ist es nicht getan. Du musst die magischen Formeln auch ausführen, wenn du ein großer Magier sein möchtest. Wenn du nur wolltest, wärst du noch zu weitaus mehr fähig und das weißt du auch.«
Kilian schlug ein weiteres Buch auf und die Buchstaben erhoben sich in einem Wirbel von den Seiten. Vorsichtig drückte der Junge die Lettern zurück auf das Papier und der Wirbelsturm beruhigte sich, indem die Buchstaben sich wieder auf die Zeilen legten.
»Wer will ein großer Magier sein? Etwa Luves?«,