„Ich spiele den Störtebeker. Spiele die Person des Piraten im fünfzehnten Jahrhundert.“
„Muss ja interessant sein“, so Degoth.
„Ja, ist es auch. Besonders für mich, als Nachfahre des Störtebeker. Das macht schon viel Freude und ich fühle mich so richtig in die Zeit von damals, die Situationen hineinversetzt.“
„Verzeihen sie, wenn wir so neugierig sind, aber gibt es noch mehr Teilnehmer die den Namen Störtebeker tragen?“, so Scholtysek.
„Ja, ein Namensvetter von mir spielt auch mit. Er müsste sich draußen aufhalten. Wissen sie, die herausragenden Rollen sind alle doppelt besetzt. Falls mal einer ausfällt. Wir teilen uns quasi diese Störtebeker – Rolle.“
„Finde ich richtig interessant. Was tun sie eigentlich hauptberuflich? Schließlich läuft ja das Stück nicht das ganze Jahr?“, ergriff Degoth das Wort. „Das stimmt der Herr. Sonst bin ich Großbauer und lebe in der Nähe von Bergen, genauer in Buschvitz.“
„Da nehmen sie sich so zu sagen eine Auszeit und verbringen hier einige Monate des Jahres?“, hakte Degoth erneut nach.
„Ja, genau so können sie es nennen. Bereits das vierte Jahr in Folge.“
„Scheint ja richtig spannend für sie zu sein. Ist immer alles glatt gelaufen? Oder gab es ab und an Probleme?“ Mit diesen Worten blieb Degoth weiter am Ball.
„Wissen sie, wo viele Menschen zusammen kommen, gibt es immer wieder mal Unstimmigkeiten, klar. Aber da erinnere ich mich vor etwa zwei Jahren an einen besonderen Vorfall. Da ist einer ausgerastet, der wollte mir anschließend an den Kragen.“
„Was heißt an den Kragen?“
„Nun, der trachtete mir nach dem Leben. Hat wohl zuviel Realität aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportiert. Der Direktor hat ihn sofort rausgeworfen. Er wollte keinen Ärger, auch nicht mit der Polizei!“
„Das ist ja ein Ding“, so Scholtysek, der Degoth dabei nachdenklich anschaute.“
Und seitdem ist Ruhe?“, fragte er den Störtebeker?
„Ja, seitdem habe ich weder etwas gehört noch gesehen.“
Während der Unterredung, die bereits in ein kleines Verhör ausartete, hatten sie alles aufgegessen und getrunken. Sie standen auf und gingen Richtung Tür, nicht ohne herzlichen Dank für das nette Gespräch und die Erzählungen zu sagen. Sie freuten sich, dass es sich für sie lohnte, hierher zu fahren. Scholtysek sagte deshalb zu Degoth: „War eine gute Idee Degoth nach Ralswiek zu fahren und auch hier nach einem Ansatz für das Verbrechen zu suchen. Danke! Jetzt haben wir immerhin einen kleinen Lichtblick. Ich denke, wir sind zumindest ein Stückchen vorangekommen.“
„Aber ja, sehe ich auch, Nun können wir optimistisch auf morgen schauen. Wenn wir dann noch aus dem Nationalpark Jasmund gewisse Erkenntnisse vorliegen hätten, ja dann werden wir den Fall Zug um Zug aufklären können, wie? Dann wären wir auf der richtigen Spur.“
Scholtysek blieb eine Antwort schuldig, trabte aber doch vergnügt neben Degoth her, zurück zum Parkplatz. Vor allem wollte er die Euphorie seines Mitermittlers nicht trüben. Seine Motivation und sein Einsatz wusste er schon nach einem Tag zu schätzen. Für heute hatten sie die offiziellen Ermittlungen abgeschlossen. Nun sah Degoth von weitem Chantal den Weg vom Bodden hoch zur Freilichtbühne gehen. Beschwingt kam sie auf ihn zu. Degoth und Scholtysek verabschieden sich an dieser Stelle. Jedoch nicht, ohne für morgen in Bergen ein erneutes Treffen zu vereinbaren. Bereits im Gehen rief Scholtysek nochmals zurück: „Nochmals danke Degoth für ihre engagierte Unterstützung. Dann schauen wir mal welche Ergebnisse wir morgen aus dem Nationalpark und aus der Rechtsmedizin vorliegen haben. Ob die Forensiker es schon geschafft haben, wer weiß? Nun also weiterhin guten Tag und bis morgen.“
Nachdem der Chefermittler sich auf den Rückweg machte, ging Degoth, seine Frau im Arm haltend, hinaus zur Schwedenkirche. Es war zwar noch ein gutes Stück zu laufen, aber der Tag war schließlich noch jung, gerade mal vierzehn Uhr. Und sie dachten dabei auch an das Seerestaurant, wovon ihnen Scholtysek zuvor bereits vorschwärmte. Da wollten sie später hin. Das leckere Fischangebot, „wenn hier oben“, flachsten sie, wollten sie unbedingt nutzen.
„Der Blick zum Bodden ist in jedem Falle sicher, da kann das Essen nur gut schmecken“, sagte Chantal mit einem Liebreiz im Blick. „So gesehen, haben wir, jeder für sich, aber auch gemeinsam, am Ende einen schönen Tag verbracht.“ Es war ein friedlicher Ort. Touristen waren an der Stelle, zumindest heute, kaum anzutreffen, was ihnen sehr gelegen kam.
Den Nachmittag nutzte Scholtysek in seinem Büro. Eine Berg voll Akten, meist bürokratischer Kram, lag schon einige Tage unbearbeitet herum. Da musste er endgültig ran. Insofern passte es gut, dass er in den kommenden Stunden keine fixen Termine zu berücksichtigen brauchte. Frau Ofenloch erinnerte ihn ihrer netten Art schließlich schon einige Male daran. Vor allem an die Terminsachen, unter anderem von dem Polizeipräsidium von Mecklenburg – Vorpommern. Bloß, was sollte er tun? Zweiteilen konnte er sich wirklich nicht. An allen Ecken gleichzeitig sein, was er aufgrund der ihm gegebenen Energie gerne getan hätte, schaffte auch er nicht. Zudem dachte er gar nicht daran, dafür gar die so wichtigen Ermittlungsarbeiten schleifen zu lassen. Inzwischen hatte er zwar eine gute Truppe zusammengestellt, aber die Fäden wollte er letztendlich selbst in der Hand halten. Ja, davon war er überzeugt, seine Kreativität unbedingt einbringen. Wenn ihm manchmal auch gewisse Zweifel kamen, ob er sich nicht doch mit diesem hären Anspruch überforderte. Hatte er sich überschätzt? So alleine am Schreibtisch, seine Sekretärin wollte heute früher das Büro verlassen, da sie einen Termin beim Arzt vereinbarte, kam ihm nochmals seine familiäre Situation in den Sinn. Seine Nochehefrau, Renate, geb. Hechler, bereitete ihm Sorgen. Seit Jahren stimmte es zwischen ihnen nicht mehr. Die aus seiner Sicht ursprünglich gute Ehe, war plötzlich zerrissen. Und er erinnert sich mal wieder an damals, als er sie in der Weinlaube in Stralsund, rein zufällig, mit einem ihm unbekannten Mann sah. Der musste einige Jahre jünger gewesen sein als er. Und er sah, zugegeben, auch gut aus. Mit dem auch ..... Drückte sich sein Ego aus.
An diesem Abend hatte er unmittelbar nach Dienstschluss eine Verabredung mit seinen beiden Offizieren, KHK Heller und KOK Christmann. Das taten sie ab und an, um auch komplexe Fälle des Kripoalltags in lockerer Atmosphäre zu beleuchten. So wie an diesem Tag. Verheimlichen konnte er die Eheprobleme nicht mehr. Auch seine Mitarbeiter wurden bereits darauf aufmerksam. Obwohl er stets von sich durchaus überzeugt war, ging ihm an dem besagten Tag anderes durch den Sinn. Nüchtern betrachtet, wurde ihm klar, dass sein Selbstbewusstsein arg schwand. War er in der Vergangenheit einfach zu blauäugig? Mehr in die Arbeit verliebt als in seine Familie? Diese Fragen stellte er sich die letzten Monate immer wieder. Ging es an ihm vorbei, dass er nicht mehr familiennah lebte und verhielt? Gerade deshalb diese Situation provozierte? Fragen über Fragen quälten ihn an diesem wunderbaren Sommertag. Am liebsten hätte er alles hingeworfen und eigene Ermittlungen in seiner Privatsphäre durchgeführt. Obwohl er seine Frau damals darauf ansprach, stritt sie alle Vorwürfe vehement ab. „Das wäre doch nur ein früherer Arbeitskollege gewesen, der
sich mit ihr mal treffen wollte“, gab sie seinerzeit zum Besten. Dabei bleibe sie. Kontrollieren, da er mehr im Dienst als zu Hause war, konnte er es nie. Auf Zufälligkeiten zu bauen, das wusste er als KOR aus dienstlicher Erfahrung, also reinen Indizien, machte keinen Sinn. Er dachte, in seiner gerade selbstkritischen Phase, an seine Art alles haargenau zu nehmen. Ja, er wollte vieles selbst richten. Trug sicher auch dazu bei, schluckte er schwer. Oder zumindest hatte es einen großen Anteil. Setzte er frustriert nach. Kalt ließ es ihn nicht nach der langen Ehezeit. Doch er musste es abschließen. Seine Gedanken leiteten deshalb über zu Ruth, er meinte damit Frau Ruth Ofenloch. Er war von sich selbst, ob dieses Geistessprungs irritiert Doch er konnte es nicht mehr steuern. Es geschah einfach. War sie womöglich in ihn auch verliebt? Die Frage stellte er sich bereits des Öfteren.
„Passen würde es ja schon“, sagte er dann leise vor sich hin. „Gemeinsame Arbeit, gutes Miteinander, zumindest im Großen und Ganzen.“
Warum sollte das nicht auch