Albin schaffte es endlich, noch knapp vor der Mittagszeit am Ende des Waldweges anzukommen. Erleichterung machte sich breit. Braksop! Auf der anderen Seite des Waldes konnte er es sehen. Da lag es nun hinter einer großen Wiese voller halb bestellter Felder direkt vor seinen Füßen: Die Hauptstadt des großen und glorreichen Königreiches Splinarsa, mit all seinen hohen Türmen und dicken Mauern. Legenden und Mythen, Logik und Magie, Gut und Böse rankten sich um die Stadt, ganz so als wollten sie diese Metropole jeweils für sich beanspruchen. Das war also Braksop, Heimat der unbegrenzten Möglichkeiten, Ort der Krieger und Zauberer, Stadt der Musen und der Krämerseelen, Biglunds große Perle und Zankapfel vieler Mächte und Epochen. So stand es zumindest einmal in einem Werbeprospekt, welches Albin von einem Reisebüro im Nachbardorf fünf Jahre zuvor mitnahm und sich auf eine seiner Zimmerwände klebte. Die hohen Mauern aus dickem Stein gewährten ihm nur einen schmalen Einblick in die Stadt. Albin ging den Wanderweg weiter auf die Stadt zu, denn er führte direkt zu einem der Tore. Er war schon sehr gespannt darauf, die Hauptstadt des Königreichs einmal von innen zu sehen, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dies jemals getan zu haben und das obwohl sie nicht einmal weit entfernt war. Aber ein Quelldorfbewohner reist nun mal nicht gerne. In Erwartung von dem Ausmaß an Glanz und Prunk betrat er das Tor, das vor ihm von zwei gelangweilt aussehenden Wachen geöffnet wurde.
Die Wahrheit war anscheinend weitaus profaner als das Werbeprospekt vermuten ließ. Streunende Katzen jagten Ratten und Mäuse die Straßen entlang, an deren Seiten viel zu alte Frauen bestimmte Dienste anboten, die weder ihrem Alter, noch ihrem Anblick entsprachen. Kinder spielten in Schlammpfützen und machten sich dadurch ihre Klamotten schmutzig, Ungeziefer krabbelte, kroch, flog oder schwirrte herum und junge Zaubererlehrlinge besorgten für ihre Meister ein paar Arbeitsutensilien in den ausgefallensten und schäbigsten Läden, die Albin je gesehen hatte. Die eine Hälfte der Häuser war längst grundsanierungsbedürftig und ein Drittel der anderen Hälfte war noch nicht einmal zu siebzig Prozent fertig gebaut oder kläglich durch die Verwendung einfachster Bauzauberei vor dem vorzeitigen Einsturz bewahrt. Bauzauberei war nun mal teuer. Das Einzige, was in dieser Stadt augenscheinlich gut instandgehalten wurde, waren ein paar Lesben-Bars und die Türme, in denen sich entweder Zauberer, Steuereintreiber, Zöllner oder Gefangene aufhielten. Albin konnte es kaum glauben, hier richtig zu sein, doch sämtliche Indizien, insbesondere das Schild mit der Aufschrift „Braksop - Hauptstadt des Königreichs“, das er schon vor dem Betreten der Stadt am Wegesrand sah, sprachen klar für diese Annahme. Hinzu kam, dass man hier einen anderen Dialekt sprach, als in dem Dorf, aus dem Albin stammte und in dem man sich genau über diesen Dialekt der Stadtmenschen leidenschaftlich aufregte. Das war also Braksop. Vielmehr ein Schmelztiegel zahlloser sozialer Schichten, Kulturen, Weltanschauungen und ein wild zusammengebrautes Gemisch aus Kriminalität, eigenbrötlerischer Selbstsüchtigkeit, Unrat und dessen, was man armseliges Leben nennt.
Albin ging neugierig die Straße entlang, in der Hoffnung auf handfeste Indizien zu stoßen, die ihm bei seiner Suche nach König Theobald dem Siebten weiterhelfen konnten. Doch er fand nichts: Kein Wegweiser, keine Menschen, die auch nur irgendein Wort über ihn verloren und auch sonst nicht der kleinste Hinweis in dieser hoffnungslosen Gegend. Albin fiel nach einiger Zeit auf, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, wo sich König Theobald der Siebte überhaupt befinden konnte. Denn erstaunlicherweise sah er weit und breit keine Burg und kein Schloss, in dem dieser hätte residieren können. Albin ging weiter in Richtung Stadtmitte, in der Hoffnung, irgendwo wenigstens eine bürgerlichere Gegend finden zu können. Die Personen und sogar die Tiere, welche ihm auf dem Weg dorthin begegneten, betrachteten ihn mit großem Argwohn und spürbarer Missgunst. Es bestand von vornherein nicht der geringste Zweifel daran, dass Albin ganz und gar nicht willkommen war in dieser Stadt.
Die versiffte Gegend veränderte sich dem äußeren Anschein zwar nicht allzu sehr, doch immerhin kam Albin nach einiger Zeit am Marktplatz der Hauptstadt an, auf dem sich einige Leute tummelten und umhergingen. „Die machen wenigstens einen seriöseren Eindruck“, dachte er. Vielleicht wussten ja diese Stadtmenschen wirklich mehr als er. Albin suchte sich einen der allerbuckligsten Marktplatzpassanten aus und ging zu ihm.
„Entschuldigen Sie bitte. Wo finde ich König Theobald den Siebten?“ fragte er ihn.
Der bucklige Mann sah Albin von oben bis unten misstrauisch an, kam dann ein gutes Stück mit seinem linken Ohr näher an Albins Mund heran und fragte: „Häh?“
„Ich suche König Theobald. Wissen Sie, wo er ist?“ fragte Albin erneut und diesmal deutlich lauter.
„Ich? Ja, das weiß ich“, antwortete der Bucklige und zog dabei eine schelmische Schnute.
„Und wo ist er?“ fragte Albin ungeduldig.
Der Bucklige spuckte auf den Boden und verzog sein Gesicht. „Nun, für drei Goldtaler oder ein Dutzend gerupfter Hühner verrate ich es dir“, bot er Albin an.
Empört von diesem völlig überteuerten Angebot und enttäuscht von seiner eigenen Zahlungsunfähigkeit wandte sich Albin wortlos von dem buckligen Passanten ab und suchte sich eine neue Möglichkeit. Eine nicht allzu weit entfernte Frau, die in purpurfarbene Tücher gekleidet war, schien allein optisch gesehen wesentlich vielversprechender. Albin ging zu ihr. „Entschuldigen Sie. Wo finde ich König Theobald?“
Die Frau sah Albin noch misstrauischer und missgünstiger an als der bucklige Mann gerade erst; ungefähr so, wie man ein lästiges Insekt ansah. Nachdem sie Albins Frage vernommen hatte, spreizte sie ihre Finger, welche sie mit hochgezogenen Augenbrauen eine kurze Zeit lang begutachtete. Schließlich antwortete sie dann: „Nun, für drei Goldtaler und eine Silberunze verrate ich es dir.“
Albin war geschockt. So eine Summe hatte er noch nie in seinem Leben besessen. Konnte die Inflation in dieser Stadt tatsächlich so viel angerichtet haben? „Nein danke!“ antwortete er und wandte sich von der Frau ab.
Doch er hatte eine bessere Idee. Im Bürgermeisteramt würde er sicher jemanden finden, dessen überbezahlte Arbeit es wäre, ihm zu sagen, wo sich der König befindet. Und nach kurzem Umsehen stellte er fest, dass das Bürgermeisteramt zu seinem Glück direkt am Marktplatz lag. Albin ging sofort hinein und suchte eine hilfsbereit wirkende Person. Die Auswahl fiel nicht schwer, da lediglich eine Person im Bürgermeisteramt anzutreffen war, was Albin bereits sehr erstaunte. Es war die Dame am Empfangsschalter, die sich gerade damit beschäftigte, den Belag von ihren Zähnen zu entfernen, bis sie etwas peinlich berührt bemerkte, dass sich nunmehr eine weitere Person im Raum befand. Albin näherte sich ihr und fragte: „Hallo, Wo finde ich König Theobald den Siebten?“
Die Dame am Schalter spielte sich am Haar herum, überlegte einen Moment lang, kräuselte den Mund und machte anschließend eine Geste, welche unmissverständlich ausdrückte, dass diese Information ihr Geld wert sei.
Albin sah sie ungläubig an. Doch bevor er über den horrenden Preis der erwünschten Information aufgeklärt wurde, sah er bereits die Person, nach der er suchte. Ein breit gebauter Mann schritt hochnäsig wirkend mit zwei Gestalten als Gefolge einen kleinen Korridor entlang, der sich etwa zehn Meter von Albin entfernt befand und in einen weiteren Korridor mündete, welcher von der Empfangshalle in einen anderen Teil des Gebäudes führte. Der resolut wirkende Mann hielt ein Zepter in der rechten Hand und trug eine Rüstung und über der Rüstung ein langes, schwarz-gelbes Gewand mit einem aufgenähten Wappen, welches einen Hund darstellte, der gerade dabei war, versehentlich eine Katze zu besteigen. Das war das Wappen des Königreiches