Am Bahnhof angekommen, hatten wir noch knapp 20 Minuten, bevor Tom auf den Bahnsteig musste. In der Bahnhofsvorhalle herrschte gemäßigtes Treiben, es war Sonntag und es waren keine Berufspendler unterwegs.
"Der gestrige Abend und der Vormittag waren wunderschön, Merle," begann Tom und sah mir tief in die Augen, "ich hoffe, Du hast Dich in meiner Gesellschaft ebenso wohl gefühlt wie ich mich in Deiner?"
"Ja ... ja ... sehr wohl gefühlt habe ich mich," stotterte ich angesichts des atemberaubenden Blautons seiner Augen, in denen ich gerade fast zu versinken schien. Tom lächelte und nahm meine Hand. Es war, als würden elektrische Stromschläge mich durchfahren, als seine Finger meine berührten. Sanft strich er mit seinem Daumen über meinen Handrücken, während seine andere Hand mir erst eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht entfernte und sie mir hinter mein Ohr strich, um sie dann auf meine Wange zu legen. Wie automatisch schienen sich meine Lippen leicht zu öffnen und ich sah ihn erwartungsvoll an. Tom's Blick ging von meinen Augen hinunter zu meinen Lippen und zurück zu meinen Augen. Langsam näherten sich unsere Gesichter einander und noch bevor seine Lippen die meinen trafen, hatte ich bereits meine Augen geschlossen.
Dieser erste Kuss war wohl der schönste meines bisherigen Lebens. Sanft und weich schlossen sich seine Lippen um meine und nach kurzem Verharren trafen sich unsere Zungen. Langsam und zärtlich spielten sie miteinander, bis wir uns schließlich voneinander lösten. Tom, der mich während des Kusses in eine feste Umarmung gezogen hatte, sah zu mir herab und lächelte fast liebevoll.
"Schön, Dich kennengelernt zu haben, Merle," flüsterte er und lehnte die Stirn an meine.
"Schön, Dich kennengelernt zu haben, Tom," flüsterte ich ebenso leise zurück.
"Ich muss leider jetzt gehen ...," sagte er und löste sich langsam aus unserer Umarmung.
"Werden wir uns wiedersehen?", platzte es hoffnungsvoll aus mir heraus, während ich zusah, wie er seine Tasche aufhob und sich Richtung Bahnsteig wandte.
"Das hoffe ich doch sehr", sagte er, "ich melde mich bei Dir, sobald ich zuhause bin."
Und er hielt sein Versprechen.
5
Wie versprochen hatte Tom sich direkt nach seiner Ankunft in Hamburg mit einer Mail gemeldet. Da wir vergessen hatten, unsere Telefonnummern auszutauschen, holten wir das nach und zu unseren regelmäßig versandten Nachrichten, kamen nun auch lange Telefonate. Ich liebte es, seine Stimme zu hören. Manchmal telefonierten wir bis tief in die Nacht hinein, was zur Folge hatte, dass ich tagsüber hundemüde, aber mit einen seligen Lächeln auf meinem Bürostuhl saß. Mein neuer Vorgesetzter, Herr Sieme, musste vermutlich schon denken, dass ich unter Drogen stand.
Unser Wiedersehen hatten wir für das übernächste Wochenende nach unserem ersten Treffen geplant. Wie gerne ich Tom bereits sofort am nächsten Wochenende wiedergesehen hätte, muss ich sicher nicht erwähnen, aber leider war es nicht möglich. Tom war auf der Hochzeit eines Freundes eingeladen und würde bereits am Freitag nach Heidelberg reisen, wo die Hochzeit stattfinden sollte. Ich bildete mir ein, echtes Bedauern in seiner Stimme zu hören, als er mir von seinen Reiseplänen berichtete ... schließlich hatte es zur Folge, dass wir uns ein wenig gedulden mussten, bevor wir uns wieder gegenüberstehen konnten.
Dennoch vergingen die folgenden zwei Wochen wie im Flug und eh ich mich versah, war bereits wieder Freitag. Wir hatten uns jeden Tag mindestens einmal gesprochen und zusätzlich noch unzählige Nachrichten hin und her geschickt. Verabredet war, dass ich am Morgen zu Tom nach Hamburg fahren, die Nacht bei ihm in der Wohnung übernachten und am Sonntagabend wieder zurückfahren würde. Die Zugtickets hatte ich bereits gekauft und war gerade dabei, meine Tasche für eine Übernachtung zusammenzupacken. Leicht nervös wühlte ich in meiner bescheidenen Auswahl an Nachtwäsche und zog stirnrunzelnd einen geblümten Pyjama hervor. In diesem Moment klingelte es an der Tür, so dass ich ihn schnell auf mein Bett schmiss, um zu öffnen.
Vor der Tür stand eine wie immer gut gelaunte Anne, der ich schon direkt an dem Sonntagabend nach unserem ersten Treffen ausführlich von meinem schönen Wochenende berichtet hatte. Anne fühlte sich natürlich bestätigt und hielt mir wieder und wieder vor, wie gut doch nun ihre Idee gewesen war, ein Friendscout24-Profil für mich zu eröffnen. Ja, ich war ihr wirklich unglaublich dankbar dafür und sagte es ihr daher auch gerne immer wieder.
Anne stolzierte ohne Umwege direkt in mein Schlafzimmer und begutachtete die auf Bett und Boden verteilte Auswahl an Kleidungsstücken. Entsetzt sah sie auf und deutete auf den geblümten Pyjama: "Das ist aber nicht dein Ernst, oder? Du willst doch nicht, dass Tom sofort die Flucht ergreift, wenn er Dich darin sieht ..."
"Mensch, Anne, ich habe gerade erst angefangen nachzusehen, was ich mitnehmen kann, als Du geklingelt hast. Ich hatte mich noch längst nicht entschieden", verteidigte ich mich beleidigt.
Schnell stopfte ich den Pyjama wieder zurück in meinen Schrank und sah mich nach einem geeigneteren Exemplar um. Anne, die mir neugierig über die Schulter schaute, rümpfte die Nase. Sie schüttelte so heftig mit dem Kopf, dass ihr perfekt frisierter blonder Pferdeschwanz hin und her wippte. "Du ziehst am besten keinen von diesen Dingern an, würde ich sagen."
Ich musste zugeben, dass ich leider nur unförmige Pyjamas im Angebot hatte, die zwar bequem, aber wirklich nicht für fremde Augen bestimmt waren. Schmunzelnd musste ich daran denken, wie oft ich in den letzten zwei Wochen genau in diesen Kleidungsstücken am Telefon gesessen und stundenlange Telefonate mit Tom geführt hatte. Wie gut, dass es noch kein Bildtelefon gab ...
"Hier, zieh das morgen Nacht an, das geht", meinte Anne und hielt mein kurzärmeliges Mickey-Mouse-Shirt hoch. Es war weit und gemütlich und ich zog es ab und zu an, wenn ich im Hochsommer keinen Pyjama tragen wollte. Es reichte allerdings nur bis kurz über meinen Po und ich bezweifelte, dass ich mich damit angezogen genug fühlen würde.
"Hm, dann müsste ich noch irgendwas für untenrum mitnehmen", überlegte ich noch, was Anne allerdings nur wieder zum Kopfschütteln brachte.
"Blödsinn, Du hast tolle Beine, die darfst Du ihm ruhig zeigen. Außerdem habt Ihr Euch doch schon geküsst, also darf er diesmal ruhig ein wenig mehr von Dir sehen."
Errötend wandte ich mich ab, was Anne mit einem missbilligenden Schnalzen kommentierte. "Merle, ich bitte Dich. Man könnte meinen, dass Tom der allererste Mann ist, der Dich geküsst hat und Dich eventuell nackt sehen könnte."
"Nein ... natürlich nicht, aber ich habe da trotzdem eine Hemmschwelle, die ich nicht einfach so beseitigen kann," verteidigte ich mich gekränkt. Anne wusste ganz genau, wie schwer ich mich tat, und es musste nicht sein, dass sie mir das ständig aufs Brot schmierte.
Ich dachte kurz an Frank und Matthias, meine beiden Ex-Freunde.
Frank hatte ich mit 19 Jahren in einer Diskothek kennengelernt. Eigentlich hatte er zuerst sein Glück bei Anne und dann bei meiner Freundin Kerstin versucht. Als er jedoch sowohl von der einen als auch von der anderen einen Korb kassiert hatte, hatte er sich letztendlich mir zugewandt. Ja, klar, ich war mir bewusst darüber, dass ich nur die 3. Wahl war, aber wir verstanden uns auf Anhieb gut und ich war einfach froh, dass sich überhaupt einmal jemand für mich interessierte. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag zum Eis essen und wurden noch am selben Tag ein Paar. Leider war Frank genauso unerfahren wie ich und so kam es, dass mein erstes Mal alles andere als erinnerungswürdig blieb. Aber ich hatte einen Freund und war schon irgendwie glücklich ... und auch im Bett lief es irgendwann besser.
Die Beziehung zu Frank hielt ganze zwei Jahre, bis er schließlich auf der Arbeit eine Kollegin kennen und lieben lernte, mit der er heute verheiratet ist und drei bezaubernde Kinder hat. Ich war ihm damals nicht einmal böse, weil mir von Anfang an klar war, dass Frank nicht der Mann meines Lebens sein würde und es lediglich eine Frage der Zeit war, bis einer von uns die