Nurfürdich. Anne Meller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anne Meller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738044553
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ich hätte mich sehr schwer damit getan, ihm wehzutun.

      Auch das war wohl typisch für mich: lieber ließ ich mir das Herz rausreißen und darauf rumtrampeln als umgekehrt. Anne hatte schon damals nicht verstanden, warum ich Frank zum Abschied nicht wenigstens eine schallende Ohrfeige verpasst hatte. Sie, so hatte sie damals leidenschaftlich bekräftigt, hätte ihm definitiv in die Eier getreten.

      Eine Weile später lernte ich auf einer Firmenfeier Matthias kennen, der vor kurzem als Kfz-Mechaniker bei uns angefangen war. Nachdem wir zu späterer Stunde beide leicht angetrunken auf dem gleichen Stuhl Platz nehmen wollten, war es um uns geschehen. Noch in der gleichen Nacht kam er mit zu mir. Als ich am nächsten Morgen völlig verkatert die Augen öffnete und ihn schnarchend neben mir vorfand, wäre ich vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Zumal ich mich an die Nacht nur noch sehr dunkel, wenn überhaupt, erinnern konnte. Aber wir blieben knappe neun Monate zusammen, bis ich scheinbar auch Matthias zu langweilen begann. Er kümmerte sich lieber um seine zu tunenden Autos, als weiterhin Zeit mit mir zu verbringen. Und so verlief meine zweite Beziehung ebenfalls irgendwann im Sande und auch diesmal war ich nicht wirklich traurig darüber gewesen.

      "Merle?", riss Anne mich aus meinen Gedanken, "was ist? Alles ok?"

      "Ja ... klar ... ich war nur gerade in Gedanken ... alles ok," versicherte ich ihr schnell.

      Anne nahm neben mir auf dem Bett Platz und legte ihre Hand auf mein Bein. "Das kann ich Dir gerade irgendwie nicht glauben. Willst Du drüber reden?"

      Ich ließ die Augen durch mein kleines Schlafzimmer schweifen. Ich hatte inzwischen fast den kompletten Inhalt meines Kleiderschranks im Zimmer verteilt und das nur, um einige wenige Kleidungsstücke für lediglich eine Übernachtung herauszusuchen. Fündig war ich dennoch nicht geworden und bezweifelte auch, dass ich je zufrieden mit der später getroffenen Auswahl sein würde.

      Ich seufzte: "Ach, Anne, ich fühl mich einfach so ... so ... unsicher. Ja, unsicher ist glaube ich das passende Wort. Tom ist so toll und ich bin so ..."

      "Merle! Du fängst jetzt nicht ernsthaft wieder mit dieser Nummer an, oder? Du bist auch toll und Tom scheint das erkannt zu haben", schimpfte Anne und drückte wie um ihren Worten Ausdruck zu verleihen fast schmerzhaft mein Bein.

      "Aua, kein Grund mich zu kneifen", jammerte ich.

      "Eigentlich sollte man Dich kräftig durchschütteln, damit Du endlich begreifst, dass Du kein minderwertiger Mensch, sondern eine schöne intelligente Frau, die gerade einen ebenso schönen Typen kennengelernt hat," sagte sie und fügte schmunzelnd hinzu, "... zu seiner Intelligenz kann ich noch nichts sagen, aber wer Grafiker ist, hat auf jeden Fall schon mal eine Sache richtig gemacht."

      Ich musste lachen. "Danke, Anne, Du bist lieb." Ernster werdend blickte ich sie an: "Aber genau das ist mein Problem. Tom ist wirklich unglaublich attraktiv, er ist so selbstbewusst und scheint so genau zu wissen, was er will und was nicht. Allein mit seinen Augen könnte er jede Frau um den Verstand bringen. Aber er will mich wiedersehen ... ich kann das irgendwie nicht fassen ... und es macht mir Angst."

      "Ich kann das ja auch ein bisschen verstehen. Aber bitte versuche doch einfach, Dich fallenzulassen. Nimm es hin, dass Tom das letzte Wochenende mit Dir genauso schön fand wie Du auch. Schließlich hat er sich sofort wieder gemeldet und Ihr habt bisher jeden Tag Kontakt zueinander gehabt. Merle, was willst Du denn noch mehr!" Sie drückte wieder mein Knie, diesmal aber eher aufmunternd. "Weißt Du, wie lange ich anfangs auf einen Rückruf von Jan warten musste ... mit dem ich übrigens nicht mehr zusammen bin ..." fügte sie fast beiläufig hinzu.

      "Was! Warum denn? Anne, das tut mir leid ...,"

      "Ach was", winkte sie sofort ab, "das ist schon ok. Ich hatte eh nicht vor, für immer mit ihm zusammen zu bleiben. Lass uns einfach nicht weiter drüber reden." Sie sprang auf, um sich wieder meinen verstreut herumliegenden Kleidungsstücken zu widmen. "Außerdem habe ich ja auch noch ein Friendscout24-Profil, vielleicht gibt es ja noch andere Toms da."

      Ich musste lachen und erhob mich ebenfalls. Ja, ich bewunderte Anne. Bei ihr musste schon mehr passieren, als dass ein Mann sie sitzen ließ, um sie aus der Bahn zu werfen. Hätte ich doch nur einen Fünkchen von ihrem Selbstbewusstsein.

      "Gut, Du meinst also, ich sollte Mickey Mouse einpacken ... ohne weitere Hose?," fragte ich, immer noch leicht zweifelnd.

      "Unbedingt", bekräftigte Anne nickend.

      Nachdem Anne gegangen war und ich endlich meine kleine Reisetasche fertig gepackt hatte, griff ich zum Telefon, um Tom anzurufen. Ich wollte ihm noch mitteilen, wann mein Zug ankommen würde.

      Nervös, wie immer wenn ich ihn anrief, tippte ich seine Hamburger Telefonnummer in die Tasten. Ich konnte sie längst auswendig und vermutlich hatte sie sich unauslöschbar für alle Ewigkeiten in mein Gehirn eingebrannt.

      "Riedel", meldete er sich nach dem dritten Klingeln.

      "Merle ... hier ist Merle", stotterte ich in den Hörer. "Ich wollte Dir noch Bescheid geben, wann ich morgen auf dem Bahnhof ankomme..."

      "Merle, hey, schön, dass Du anrufst," freute Tom sich aufrichtig, "also, wann wirst Du hier sein? Ich freu mich schon sehr auf Dich."

      "Ja, ich freu mich auch schon ... der Zug soll um 10.38 Uhr ankommen ... laut Plan ... aber man weiß ja nie ... aber vielleicht ist er ja doch pünktlich ...." Meine Güte, Merle, reiß Dich zusammen, schalt ich mich. Warum war ich bloß schon wieder so nervös? Wir hatten in den letzten Wochen jeden Tag miteinander gesprochen und da musste ich doch auch nicht so rumstottern. Lag es daran, dass wir uns morgen wiedersehen würden? Ich musste wieder an unseren Abschiedskuss zurückdenken. Er war so wundervoll gewesen und ich hatte ihn in Gedanken immer und immer wieder durchgespielt. Tom's weiche Lippen, seine starken Arme, die mich in einer zärtlichen Umarmung hielten. Es war einfach der perfekte erste Kuss gewesen.

      "Mach' Dir keine Sorgen. Egal, wann Dein Zug einrollt, ich werde da sein," lachte Tom.

      Ja, das wusste ich mit Bestimmtheit, er würde da sein.

      Als ich am Samstag aus dem ausnahmsweise pünktlich eingefahrenen Zug stieg und nach Tom Ausschau hielt, hatte ich ihn rasch entdeckt. Er lehnte lässig an einem Getränkeautomaten und stieß sich nun mit einem breiten Grinsen ab, um auf mich zuzukommen. Schüchtern ging auch ich auf ihn zu. Obwohl es auf dem Bahnsteig vor Menschen nur so wimmelte, hatte ich das Gefühl, nur Tom zu sehen. Ich bahnte mir langsam den Weg und fragte mich gerade, wie nun wohl unsere Begrüßung ausfallen würde. Vor meinem inneren Auge sah ich uns schon in einer innigen Umarmung versinken, während sich unsere Lippen wieder zu einem Kuss ... leider konnte ich diesen schönen Gedanken nicht zu Ende denken, denn in diesem Moment rempelte mich ein Mann von hinten so kräftig an, dass ich nach vorne taumelte. Ich versuchte mich noch zu fangen, ließ meine Tasche fallen und ruderte verzweifelt mit den Armen, um irgendwie das Gleichgewicht zu halten, aber es war zu spät ... ich fiel lang ausgestreckt auf den Bahnsteig.

      Mit dem Gesicht nach unten wünschte ich mir, der Boden möge sich auftun und mich augenblicklich verschlucken ... sowas konnte wirklich nur mir passieren.

      Tom war inzwischen bei mir und rief entsetzt: "Merle! Hast Du Dir wehgetan? ... Manche Leute haben aber auch echt keine Augen im Kopf, verdammt noch mal," schimpfte er dem davoneilenden Mann hinterher, der es scheinbar nicht für nötig hielt, sich zu entschuldigen. Ich rappelte mich langsam hoch und Tom reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Nachdem ich wieder einigermaßen sicher auf den Beinen stand, sah ich kurz an mir herunter und auch Tom tat es mir gleich. Mein rechter Ellenbogen war aufgeschrammt und blutete. Na toll, dachte ich, da malte ich mir gerade eine filmreife Begrüßung mit meinem Traummann aus und landete stattdessen unsanft vor seinen Füßen und noch dazu mit blutigem Ellenbogen. Mir schossen die Tränen in die Augen ... nicht vor Schmerz - davon merkte ich eigentlich gar nichts - sondern vor Scham.

      "Merle?" fragte Tom nochmal und bemerkte meine Tränen, "tut es sehr weh? Sollen wir uns kurz hinsetzen?"

      "Nein, nein, es geht schon," murmelte ich, schaffte es aber immer noch nicht, ihn anzusehen. "Ich gehe am besten kurz auf die Toilette und verarzte das irgendwie ..." Verzweifelt sah ich mich um ... konnte