Vater und Klon. Wolf Buchinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf Buchinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742780416
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sehe ich auch keine Ställe für die Schweine, vielleicht sind die oben auf dem Dach. Für diesen Ausblick hätte ich nicht nach China fliegen müssen, kein Reisfeld, keine Wasserbüffel, kein uriges Dorf. Das da draussen könnte in jeder europäischen Grossstadt sein. Ich werde mir einen Ausflug aufs Land wünschen, wenigstens einen halben Tag. Und ein paar Fotos möchte ich auch machen, Bauern beim Reisdreschen, Frauen kochen am Holzkohlefeuer und die untergehende Sonne in einem Fluss, ein kleiner See tut es auch.

      Ich bin und bleibe ein Romantiker und brauche wenigstens eine Rose für Elisabeth, schliesslich hat sie mich eingeladen … und geküsst! Was soll das bedeuten? Chinesen sind doch beim Körperkontakt sehr scheu und zurückhaltend, aber sie ist ja Europäerin. … Was wollte sie damit sagen? Vielleicht hat sie mich ausgewählt, weil ich ihrem Traum-mann gleiche, der jede Nacht in ihren Phantasien über sie herfällt? … Nö, das strahle ich nie und nimmer aus. Vielleicht die Seriosität, wie ich Geld verdienen kann oder ganz einfach meine bescheidene Naivität, die man aus- und benutzen kann für eigene Zwecke. Wo kriege ich einen Blumenstrauß oder wenigstens eine Rose her?

      Jetzt fällt mir erst auf, wie durch und durch sachlich dieser Raum ist, kein Bild an den Wänden, alles grau in grau gehalten, Schränke und Nachttisch in sterilem Weiß wie in einer Arztpraxis, alles riecht hygienisch und übertrieben sauber, wahrscheinlich könnte man auf der Kloschüssel essen. Vielleicht sieht auch ihr Innenleben so steril aus, Ärztin, Forscherin, Entwicklerin, da bleibt kein Platz für Farbe und Spielereien, sec bis zum Umfallen. Logisch, keine Rose, die würde stören. Und wer schenkt in der heutigen, von der Elektronik bestimmten Zeit überhaupt noch Blumen, man sendet höchstens ein runtergeladenes Foto auf das Smartphone, das genügt. Klinisch rein, der Stiel hat keine Dornen und den Geruch muss man sich dazu denken. Fortschritte der Zivilisation.

      „Ja, ich bin gleich fertig! Warten Sie bitte vor der Tür, es dauert nicht mehr lange!“

      Top pünktlich, auf die Sekunde zwanzig Minuten. Noch vor ein paar Tagen bin ich rumgelungert in altem Pulli, Schlabberhose und Pantoffeln, jetzt fühle ich mich schon richtig wohl in Anzug mit Krawatte und schwarzen Kalbslederschuhen. Damit schaue ich mich selbst gerne und etwas länger im Spiegel an. Ich wirke drahtiger, jünger und vermittle Seriosität. Zumindest äußerlich, innen drin bin ich wacklig wie eh und je, wenig überzeugt von mir selbst, unruhig wegen der Dinge, die nun sehr bald auf mich zukommen werden, und ich habe eine richtig große Furcht vor dem Moment, in welchem ich meinem Klon zum ersten Mal begegnen werde. Aber jetzt muss ich mich zusammenreißen und den Selbstsicheren mimen.

      „Hereinspaziert! Möge die Schönheit Asiens diesen Raum verzücken. … Peter, was macht ihr denn hier? Ich habe Elisabeth erwartet.“

      „Ja, die kommt in einer Stunde, wir bauen auf, machen noch ein Kurzinterview mit dir und filmen den Anfang des Essens. Mein Gott, du siehst ja aus wie ein Leichnam nach drei Tagen, tja, saufen muss man auch vertragen. Fiona, pinsele ihn gesund, viel Rouge und rosa Augenpartien. Und viel Spray, seine Falten werden immer tiefer. Und die grauen Haare schwarz einfärben, viele User, vor allem aus China, haben sich beschwert, dass man einen derart alten Mann zum Klonen nimmt. Na ja, Elisabeth muss wissen, warum sie ihn genommen hat, für mich ist er eine Fehlbesetzung. Aber Job ist Job, und sie zahlt ja wirklich gut.“

      „Danke für die Blumen! Und nun an die Arbeit! Und wenn ihr es nicht schafft, mich zwanzig Jahre jünger aussehen zu lassen, werde ich dafür sorgen, dass das Team ausgetauscht wird.“

      So, jetzt bin ich wieder der alte: gemein und radikal ehrlich. Es wirkt. Sellie kommt gerade mit mehreren Farbscheinwerfen herein und tauscht die bläulichen Lampen der Deckenbeleuchtung gegen warmgelbe aus. Gut gemacht, jetzt wirkt der Raum wie eine kleine Wohlfühloase, da schmeckt jedes Essen besser.

      „Wir machen das Interview in zwei Stufen: Zuerst auf Tonband, damit niemand herausfinden kann, wo du bist. Fiona schreibt den Text und stellt ihn sofort auf unsere Homepage. Danach eine Kurzform für den Dokumentarfilm, den wir erst nach der erfolgreichen Klonierung einstellen.

      „Ton ab! Frage eins zur Dok ‘Raoul’: Wie haben Sie bisher unser geliebtes China mit seinen Menschen erlebt?“

      „Wollt Ihr mich verarschen? Ihr wisst doch genau, dass ich bis auf einen Zöllner weder Land noch Leute kennen lernen konnte …“

      „Hallo, wir sind in den Medien, erzähl uns doch einfach irgendetwas Schönes. Du hast doch sicher schon mal einen Film über China gesehen …?“

      „Nein. Ich sage nix ohne meinen Assistenten. Wo kann ich mailen?“

      „Nimm mein Smartphone, neuestes Modell, gibt es bei euch erst in vier Monaten. Kannst du damit umgehen?“

      „Klar doch, ich bin mit diesen Dingern groß geworden. Sehr chic, sehr schnell. Wo ist denn verdammt nochmal die Mailtaste?“

      „Hallo IT-Opa, Tasten war früher. Du musst auf ‚@‘ scrol-len, dann langsam und deutlich das Wort ‚Mail‘ sagen und wenn oben ‚an wen?‘ blinkt, einfach ‚Edouard‘ sagen.“

      „Woher habt ihr seine Adresse?“

      „Hihi, von wem wohl? Schau mal, Fiona wird ganz rot - in ihrem Alter …“

       *Lieber Edouard, wie geht es Dir in der Heimat? Hier läuft alles bestens bis auf den Scheißwein, den es im Flieger gab.

       Peter quält mich schon wieder mit dummen Fragen. Was würdest Du sagen, wenn Du überhaupt noch nichts gesehen hast und etwas über Land und Leute von Dir geben sollst - und zwar möglichst etwas Positives. Und vielleicht schreibst du auch noch gerade, wie ich diese erste Phase erlebe. Merci!*

      *Cher Paul, hier ist es total langweilig ohne Dich. Ich freue mich darauf, Dich bald wohlbehalten wiederzusehen. Ich habe genug Flüssiges eingekauft. Und mach nicht allzu lange, der Camembert ist schon fast reif. Hier meine, also Deine Antworten:

       Ich bin überrascht von der Freundlichkeit der Menschen. Schon beim ersten Kontakt bei der Passkontrolle hat mich der nette Beamte freundlichst angelächelt und mich in bestem Englisch willkommen geheißen. Diese echte Gastfreundschaft habe ich nun vielfach erlebt, sei es beim Einchecken im Ming-Kompetenzzentrum oder auf dem Bauernmarkt, wo man mir viele Spezialitäten des Landes zum Probieren angeboten hat, obwohl ich gar nichts kaufen wollte. Für morgen ist die Besichtigung der Chinesischen Mauer vorgesehen, ein weiterer Höhepunkt meiner Reise in dieses besondere Land.*

      „Die Passage ‚in dieses besondere Land‘ wird gestrichen und ersetzt durch ‚in das goldene Reich der Mitte‘. Fiona, hast du es verändert?“

      „Okay Boss, und jetzt schnell Nummer zwei. Elisabeth wartet schon vor der Tür!“

       *Ich spüre eine große innere Anspannung in mir. Schließlich ist es das Abenteuer meines Lebens und ein grosser Schritt für die Menschheit. Kolumbus wird es wohl kaum anders ergangen sein, als er zum ersten Mal in der Ferne das neue Land sah. Ich bin allen dankbar, dass ich die große Ehre habe, als Erster geklont zu werden. Ein besonderer Dank geht an die verehrte Frau Professor Ming und ihr engagiertes Team!*

      „Hoffentlich brichst du dir beim letzten Satz nicht die Zunge ab! Die Sache mit Kolumbus fliegt raus, viel zu ausgelutscht.“

      „Hey Peter, kaum habe ich es im Netz, sind schon Dutzende von Reaktionen da, die meisten mit schematischen Glückwünschen und Hoffnungen und … und …, kaum zu glauben, unsere oberste Parteiführung in persona, unser Genosse Gesundheitsminister wünscht uns das Allerbeste. Na, jetzt sind wir nicht nur geduldet, jetzt haben wir den Durchbruch und können ungestört arbeiten. Ich hatte da so gewisse Ängste.“

      „Ich auch, vor allem, weil ich nicht wusste, ob der Zollbeamte Meldung gemacht hat oder nicht. Er hat es nicht, das spricht für ihn. Ich habe mir Rang und Namen gemerkt, beim nächsten Mal schiebe ich ihm ein Smartphone unter. Man weiß ja nie, Paul wird sicher noch ein- oder zweimal kommen. Und schau dir mal draußen Elisabeth an, sie hat alles mitgehört und freut sich wie ein kleines Kind über diese Message, … da war wohl auch nicht alles klar mit der Führung.“

       *Danke, merci Edouard! Du bist der Größte!