Über dem Mann hing am Holz ein Schild, das eine Inschrift zu tragen schien, die sie jedoch nicht lesen konnte, da sie natürlich in arabischen Schriftzeichen verfasst war.
„Wer tut so etwas?!“, fragte sie halblaut, ohne dass sie sich eine Antwort erwartete.
Als hätte der Mann ihre Worte gehört, hob er auf einmal den Kopf und sah sie flehentlich an. Er versuchte zu sprechen, aber es gelang ihm nicht. Sein Kopf sackte weg, er schien erneut das Bewusstsein verloren zu haben. „Oder gestorben zu sein“, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.
Der Blick ging ihr durch Mark und Bein und dann lief es ihr auf einmal eiskalt den Rücken hinunter. Sie kannte diesen Mann! Sie hatte ihn am Flughafen gesehen! Aufgrund der Entstellungen hatte sie ihn nicht gleich erkannt und doch wusste sie nun sicher, dass es sich um den Attentäter handelte.
Carina fröstelte trotz der bereits stark zunehmenden Temperatur und sie wandte sich an Hatem, der sein Kamel auf gleiche Höhe mit ihrem gebracht hatte und gerade in ihre Zügel griff, um ihr Kamel zum Weitergehen zu motivieren.
„Oh Gott Hatem! Er lebt noch! Es muss doch jemand etwas tun?!“
Doch Hatem zog mit finsterer Miene und ohne auch nur einen Moment zu zögern ihr Kamel weiter.
„Ihm kann niemand mehr helfen. Halten Sie sich aus Dingen raus, die Sie nichts angehen!“
Die Tränen rannen Carina übers Gesicht.
„Was stand auf dem Schild?“, verlangte sie zu wissen. Als Hatem nicht antwortete, sagte sie noch einmal. „Bitte Hatem, ich muss es wissen!“ Und leise antwortete er: „Nehmt Euch in Acht! So ergeht es allen Feinden des großen Scheichs Suekran al Medina y Nayran.“
Carina stöhnte. „Oh Gott! Das darf nicht wahr sein!“
Der Scheich? Was für ein Monster musste er sein, dass er so etwas zuließ?
Hatem hielt noch immer die Zügel ihres Kamels, als fürchte er, sie könne etwas Unüberlegtes tun.
„Wie lange mag er da schon so hängen?“, fragte sie Hatem mit zitternder Stimme. Er schien ebenfalls erschüttert zu sein.
„Vermutlich bereits seit gestern Morgen. Ich habe Gerüchte gehört, der Attentäter sei noch in der gleichen Nacht aus dem Gefängnis geflohen …“
„Aber warum tut man so etwas Grausames?“
Hatem lachte trocken und ohne jeglichen Humor auf: „Sie haben doch gehört, was auf dem Schild stand. Eine Warnung. Nun wird sich jeder andere überlegen, ob er es wagt, gegen den Scheich vorzugehen.“
Dann fügte er hinzu: „Und nun Miss Carina verstehen Sie, warum ich Ihnen gesagt habe, dass Sie keine Ahnung haben, auf was Sie sich da eingelassen haben. Wir sind hier in der Wüste und die Gesetzte, die Sie zuhause kennengelernt haben, können Sie vergessen. Hier herrscht das Gesetz des Stärkeren. Wer nicht stark genug ist, stirbt. Ganz einfach!“
Und sanfter fuhr er fort: „Jetzt könnten wir noch umkehren. Sind Sie sicher, dass Sie das durchziehen wollen?
Carina gab sich einen Ruck und setzte sich wieder gerade auf ihrem Kamel hin. Sie hob den Kopf und sah Hatem fest an. „Ich bin umso mehr entschlossen!“
So folgten sie weiter dem Trampelpfad der Kamele, die vor ihnen ritten, immer tiefer in die Wüste hinein.
1990 - Rabea Akbar – Der General
Es war Anfang November, als Rayan ziemlich nervös am Haus von General Jack Tanner klingelte. Er stand vor einer Tür aus dunklem Holz, mit goldenem Türgriff und goldener Klingel.
Die Mauern waren frisch weiß getüncht, was den eleganten Eindruck, den das ganze Anwesen machte, noch vertiefte.
Rechter Hand konnte er den Garten hinter dem hohen Zaun und der dahinterliegenden Hecke nur ahnen, aber er hörte einen Brunnen plätschern.
Durch eine Lücke im Zaun war eine Terrasse über die ganze Breite des Hauses zu erspähen, mit gemütlichen Holzmöbeln, die mit bunten Kissen zum Hinsetzen einluden.
Er war zum Mittagessen eingeladen worden. Nachdem er im Camp als „Einheimischer“ normalerweise mit einer gewissen Herablassung behandelt wurde, war ihm dieser Sonderstatus einer Einladung zum Essen beim „Big Boss“ überhaupt nicht recht. Er war sich nicht sicher, wie die Soldaten reagieren würden, wenn sie davon erfuhren.
Außerdem hatte er schon so lange nicht mehr an einem Tisch gegessen. Hierzulande waren überwiegend die niedrigen Tische üblich, an denen man auf dem Boden sitzend aß. Er dankte in Gedanken seiner Großmutter, dass sie darauf bestanden hatte, ihm die Tischmanieren aus Deutschland beizubringen, wenn er sie besuchte. Clara hatte ihm versichert, dass die amerikanischen Tischgewohnheiten ähnlich waren, jedoch nicht ohne dabei spitzbübisch zu grinsen. „Na toll“, hatte er gedacht, „das wird ja eine schöne Blamage.“
Ein Bediensteter des Generals öffnete ihm die Tür, er wurde eingelassen und in den Salon gebracht.
„Da ist er ja, unser ‚Sohn der Wüste‘.“ Mit einem breiten Lächeln im Gesicht kam der General auf ihn zu. Er war Rayan von Anfang an sympathisch.
Breitschultrig, 52, wie Clara ihm heimlich verraten hatte und mit einem bereits leicht angegrauten Oberlippenbart ragte er durch seine Körpergröße von 1,94 m über die meisten Menschen hinaus. Gegen seinen Willen musste er feststellen, dass der General ihn ein wenig an seinen Vater erinnerte. Auch er hatte die ihm angeborene Eigenschaft, die Menschen zu beeindrucken, ohne viel aktiv dazu tun zu müssen.
Selbst wenn Claras Vater sich ohne Rangabzeichen in einen Raum begab, zog er sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Bei den Männern war er als besonnen und gerecht bekannt und sie blickten gerne zu ihm auf.
Selbst Rayan, der inzwischen auf stolze 1,89 m kam, fühlte sich klein neben ihm. Jack Tanners dunkelgraue Augen standen nie still und wenn er Rayan direkt in die Augen blickte, schien er prüfend bis in die Seele hinunter sehen zu können.
Hinter seinem Rücken munkelte man, er könne Gedanken lesen und Rayan verstand nun, wieso.
Auch Julie, die Mutter von Clara, war eine wundervolle Frau. Sie lächelte oft und die Art, wie sie ihren Mann ansah, verriet ihre tiefe Zuneigung zu ihm. Ihre Haare hatten den gleichen rotbraunen Ton wie Clara, doch bei ihr war schon die ein oder andere graue Strähne zu finden, was sie aber eher noch attraktiver machte. Sie war einige Jahre jünger als ihr Mann und Rayan schätze sie auf Mitte vierzig.
Auch ihre Augenfarbe hatte sie an Clara vererbt, das gleiche helle Blau, allerdings ohne Claras meist spöttisches Funkeln. Sie sagte nicht viel, aber wenn, dann sprach sie mit ruhiger, sanfter Stimme.
Rayan erwischte sich bei dem Gedanken, dass aus Clara, wenn sie sich noch mehr wie ihre Mutter entwickelte, eine durchaus schöne Frau werden konnte.
Der General dagegen sprach viel und oft mit kräftiger, melodischer Stimme und er lachte gerne.
Das Essen verlief ohne die befürchteten peinlichen Situationen, die sich Rayan vorab ausgemalt hatte, was vor allem an der entspannten Stimmung lag, die beide Tanners verbreiteten.
Nur einmal wurde Rayan rot bis über beide Ohren, als Claras Mutter ihn fragte, ob er eine Freundin hatte. Derartiges Interesse an seiner Person war ihm überhaupt nicht recht, vor allem, weil der General seinen forschenden Blick ebenfalls auf ihn richtete. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Clara rettete ihn: „Mama. Sei nicht so neugierig. Yasin hat ständig irgendwelche Freundinnen, ich kann sie schon kaum noch auseinanderhalten.“ Dazu verdrehte sie so verzweifelt die Augen, dass alle laut loslachen mussten.
Gegen Abend machte Rayan sich auf den Heimweg. Die Stunden waren im Fluge vergangen.
Zum Abschied nahm ihn der General zur Seite und sagte mit ernstem Blick. „Halten Sie bitte etwas die Augen auf, wir haben eine Drohung erhalten. Wir wissen noch nicht