Rayan versuchte aufzustehen, doch weiter als in eine am Bettrand sitzende Position kam er zunächst nicht. Dann überkam ihm heftiger Schwindel und er wartete ab, bis sich das Zimmer aufhörte zu drehen. Das verriet ihm, dass er offenbar länger weggetreten gewesen war.
Er überprüfte sein Gesicht, aber auch das gab ihm keinen Aufschluss, denn jemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu rasieren. Wo zum Teufel war er bloß?
Gerade als er seinen schmerzenden Kopf anstrengen wollte, sich zu erinnern, ging die Tür auf und eine Haushälterin in schwarzer Kleidung mit weißer Schürze kam herein. Als sie ihn auf dem Bett sitzen sah, machte sie postwendend kehrt und rief ins Haus hinter ihr auf Englisch: „Er ist wach!“
Also blieb er einfach erst einmal sitzen. Offenbar würde nun jemand kommen, der ihm sagen würde, wo er war.
Kurz darauf hörte er zwei Paar Schritte im Flur und ins Zimmer traten Julie und Jack Tanner. Das Haus des Generals! Natürlich! Er konnte sich verschwommen erinnern, dass er hierhergekommen war. Aber wie lange war er hier?
Julie Tanner war sehr blass und erheblich schlanker als beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte. Damals beim Essen, zusammen mit Clara. Clara! Auf einmal fielen die Puzzleteile in seinem Kopf an ihren Platz und Bilder der Erinnerung durchblitzen ihn.
Die Frau des Generals trat zu ihm und nahm ihn, ohne zu zögern in den Arm. „Wie geht es dir Junge?“, fragte sie leise.
Rayan vermutete, dass sie es war, die ihn rasiert hatte und schämte sich ein bisschen. Er musste ja fürchterlich ausgesehen haben!
Der General war am Eingang stehen geblieben und verschränkte die Arme vor der Brust. Offenbar hatte Julie ihm klar gemacht, dass sie hier zuständig war. Was musste er von ihm denken?
Aber Claras Vater lächelte und sagte nur „Willkommen zurück bei den Lebenden. Du hast dir ja Zeit gelassen …“, wobei er sofort energisch von Julie unterbrochen wurde „lass ihn Jack, sein Körper hatte den Schlaf nötig, du hast doch gesehen, wie ausgemergelt er war!“
Dann wandte sie sich an Rayan: „Und du denkst überhaupt nicht daran, aufzustehen. Jetzt wird gegessen und dann wieder geschlafen!“
Rayan fühlte sich viel zu schwach, um zu protestieren und war froh, dass sie ihn nicht mit Fragen bombardierten. Er aß ein wenig Suppe, um sich dann gleich im Anschluss wieder hinzulegen. Schnell war er wieder eingeschlafen.
1991 - Rabea Akbar- Das Verhör
Die folgenden Tage liefen alle ähnlich ab: Julie kümmerte sich rührend darum, dass er aß, trank und ansonsten schlief. Seine Proteste, dass er ihr nicht länger zur Last fallen wollte, wischte sie weg und so fügte er sich ihren Anweisungen. Er spürte, dass es um mehr als seine eigene Genesung ging, auch Julie schien es immer besser zu gehen, jetzt wo sie gebraucht wurde.
Den General sah er nicht.
Er hatte inzwischen von Julie erfahren, dass er an einem Montagnachmittag im Januar, wenig mehr als vier Wochen nach Claras Tod bei ihnen aufgetaucht war. Die folgenden fünf Tage war er in einer Art Koma gelegen. Laut dem sofort durch den General gerufenen Arzt verursacht durch völlige Erschöpfung. Nach Beendigung seiner Mission hatte der Körper einfach abgeschaltet.
Mittlerweile neigte sich der Januar dem Ende zu.
Wann immer das Wetter es erlaubte, ging Rayan in den schönen Garten. Aufgrund des milden Klimas wurde es, trotzdem die aktuelle Jahreszeit Winter war, selten kälter als 7-8 Grad und tagsüber erreichten die Temperaturen oft genug sogar 20 Grad.
Fast immer begleitete ihn Julie, wenn er nach draußen ging.
Sie sprachen nicht viel, meist saßen sie nur schweigend da.
Eine Woche nach seinem ersten Erwachen fragte Julie ihn: „Gibt es jemanden, dem wir sagen müssen, dass du hier bist? Deine Familie macht sich sicher Sorgen?!“ doch Rayan schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe niemanden.“ Und beide wussten, was er dachte und nicht laut aussprach: „Außer Clara gab es hier niemanden – er war wieder alleine.“
Am darauffolgenden Wochenende war der General zu Hause und er nutzte die Gelegenheit, dass Julie sich am Samstagnachmittag hinlegte, ein Gespräch mit Rayan zu suchen.
„ Yasin, versteh mich nicht falsch, das soll hier kein Verhör werden, aber ein paar Fragen musst du mir schon beantworten.“ Und als er sah, dass Rayans Blick sofort verschlossen wurde, fuhr er fort:
„Hör zu Junge, ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet, denn seit du hier bist, geht es meiner Frau wieder sehr viel besser. Du hast sie aus dem Loch gezogen, in das sie aufgrund Claras Tod gefallen war. Ich glaube nicht, dass mir das alleine gelungen wäre.
Aber ich bin kein gefühlsduseliger alter Mann, sondern leite hier eine militärische Einrichtung der amerikanischen Armee. Also bitte sei so gut!“
Es war keine Bitte, sondern ein Befehl.
Rayan seufzte tief: „Was wollen Sie wissen?“
In den nächsten Minuten antwortete er auf Jacks Fragen, so gut er es vermochte. Einen Teil der Umstände konnte Rayan tatsächlich nicht erklären, denn er hatte das Töten der Attentäter in einer Art Schockzustand oder Rausch erlebt. Andere Fragen wollte er schlichtweg nicht beantworten und sagte das auch deutlich. Zum Beispiel, wie viele Männer er getötet hatte und auf welche Weise.
Im Grunde war alles ganz einfach gewesen, erschreckend einfach. Er hatte auf der Straße gelebt. Den Menschen, die er dort traf und die das Schicksal der Straße mit ihm teilten, hatte er erzählt, er habe seinen Job bei der amerikanischen Armee hingeworfen, wäre einfach nicht mehr hingegangen, weil diese „dreckigen Amy-Schweine“ ihn arrogant behandelt und sogar geschlagen hätten, was zwar größtenteils nicht der Wahrheit entsprach, aber das war, was diese Menschen hören wollten. Zumindest war er nie geschlagen worden. Das hätte er sich auch niemals bieten lassen. Doch von den Leuten wurde es nur zu gerne geglaubt. Er ließ keine Gelegenheit aus, über die Soldaten zu schimpfen und zu fluchen. Das wenige Geld, das er sich durch seinen Job angespart hatte, teilte er brüderlich mit seinen neuen Bekannten, die sich über ein Essen und seine Freigebigkeit freuten.
Und bereits nach zwei Wochen wurde er von einem Mann angesprochen, der ihm Essen, ein Bad und eine Behausung versprach. Im Gegenzug wolle er Informationen.
Er gehörte zu der Gruppe, die die Anschläge plante, und wollte sich Rayans Insiderwissen zu Nutze machen. „Dieser Yasin hatte schließlich monatelang in der Kaserne gelebt.“
Anfangs war der Mann noch misstrauisch, doch es gelang Rayan so perfekt den Einfaltspinsel zu spielen, dass der Mann bald davon überzeugt war, dass von ihm keine Gefahr ausging.
Rayan war sich damals noch nicht bewusst, dass er für derlei Aktionen eine Begabung hatte. Genau diese Arbeit würde er später noch oft ausführen: Verdeckt ermitteln, sich mit allen Mitteln bis an die Zielpersonen heranarbeiten, um dann völlig unerwartet und tödlich zuzuschlagen.
Er ging zielstrebig vor und war sich für keinen Trick zu schade, um ans Ziel zu kommen. Da er keinerlei schlechtes Gewissen hatte, konnte er völlig überzeugend agieren.
So vergingen fast zwei weitere Wochen, bis Rayan sich sicher war, dass er genug erfahren hatte und alle Mitglieder der Gruppe kannte.
Dann fing er an, sie zu töten. Einen nach dem anderen. Es gelang ihm, fünf von zehn Personen aus dem Weg zu schaffen. Er musste noch nicht einmal die Leichen beseitigen, das erledigte die Gruppe für ihn, da sie befürchtete über die Toten identifiziert werden zu können.
Sie verdächtigten zunächst die Amerikaner, dann sich selbst untereinander und erst ganz am Ende, als Rayan es mit den letzten fünf Personen gleichzeitig aufnahm, bemerkten sie ihren Irrtum. Der völlig dumme, verlauste Wüstenfreak, wie sie ihn nannten, wurde zu ihrem Verhängnis.
Wie schon viele Male vorher kam er in das