„Arriba!“, rief der Animateur und hob einen halbvollen, kleinen Cognacschwenker, den er am Boden mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger hielt. In der bräunlich-grünen Flüssigkeit brachen sich die Nachmittagssonnenstrahlen. Und „Arriba“, riefen die Liegen-Besetzer und hoben ihr Glas. Es folgte ein „Abajo“ – Glas nach unten, „al centro“ – Glas an die Brust, „para dentro“ – rein damit, „Salud“ – Prost!
„Das ist Hierbas!“ erklärte der Sonnengott, nachdem wir den spanischen Kräuterlikör die Kehle herunter hatten rinnen lassen. Der Strandbesuch begann vielversprechend. Zwar war der etwa 30 Meter breite Sandstreifen nicht so dicht bevölkert, wie der Club-Pool, doch das war nach dem turbulenten Tag mit Flug und Busfahrt in Ordnung. Ein bisschen chillen, ein bisschen schwimmen – ankommen im Party-Paradies.
Der Sonnengott hatte offenbar etwas dagegen. Scheinbar stand in seinem Arbeitspapier unter anderem die Aufgabe: „Füllen Sie alle Neuankömmlinge bis spätestens sechs Stunden nach deren Ankunft restlos ab.“ Immer wieder kam der Halb-Inder aus Essen mit einem Tablett Hierbas an und Arriba-abajo-alcentro-paradentro waren sie auch schon wieder weg. Erleichtert stellte ich irgendwann zwischen Runde drei und vier fest, dass er keinerlei Anstalten machte, Kerstin oder Tina anzuflirten. Möglicherweise gab es ja die Regel „wer zuerst anquatscht, malt bzw. kommt zuerst“ – oder so ähnlich. Dies bedingte jedenfalls, dass Pascal bei Kerstin relativ leichtes Spiel hatte. Nach dem vierten Arriba-abajo-alcentro-paradentro verschwanden die beiden kichernd Arm in Arm.
Nach dem fünften Arriba-abajo-alcentro-paradentro ließ sich ein räudiger Strandköter mit hellbraunem Fell neben unseren Liegen nieder. Nach dem sechsten Arriba-abajo-alcentro-paradentro schlug irgendjemand vor, ihn in unsere Runde zu integrieren. Nach dem siebten Arriba-abajo-alcentro-paradentro hatte er sein eigenes Gläschen mit verdünntem Arriba-abajo-alcentro-paradentro. Nach dem achten Arriba-abajo-alcentro-paradentro schlug irgendjemand vor – vielleicht ich – ihn Pascal zu nennen, den echten Pascal aus unserem Zimmer zu werfen und dafür den Hund mit in den Club zu nehmen, weil der doch treuer sei als sein menschliches Pendant. Nach dem neunten Arriba-abajo-alcentro-paradentro schlug irgendjemand vor – ganz sicher ich – jetzt Nacktbaden zu gehen.
Wir waren bis auf den Spanier an der Strandbar die letzten Badegäste und so ließ sich keiner aus unserer Runde lange bitten. Auch Tina nicht. Flugs streifte sie ihr Nachthemd ab. Zum Vorschein kam ein wunderbar geformter Körper in einem blauen Bikini. Die graue Maus war gar nicht so grau. Sie war schwarz, oder vielmehr Teile ihrer Haut: ein mittelgroßes Tattoo aus geschwungenen Linien. Nicht auf der Unterseite des Rückens, wie es ja eine fragwürdige Modeerscheinung ist, sondern vorne. Tina, die unscheinbare Freundin der scharfen Kerstin, mit dem langweiligen Pagenschnitt und dem anfangs so säuerlichen Gesichtsausdruck hatte kein Arschgeweih! Tina hatte ein Bauchgeweih!
Bert schlug Hannes auf die Schulter, zeigte auf Tina und fing an, zu lachen. Gerade als wir anderen einfallen wollten, verstummten wir. Tina fummelte mit ihrer rechten Hand an ihrem Rücken. Das Bikinioberteil fiel und zwei perfekt geformte Brüste sprangen uns entgegen. Durch beide Nippel waren Stahlstifte gebohrt.
„Los, wir schwimmen zu dem Boot da! Wer zuletzt da ist, zahlt einen Hierbas“, rief sie und rannte los.
Gebannt starrten wir auf ihre hüpfenden Busen. Selbst der Sonnengott schien hinter der zurückhaltenden Tina alles vermutet zu haben – nur kein stahlstiftgepimptes Bauchgeweih. Er war trotzdem als Erster wieder gefasst.
„Los, hinterher“, befahl er und wir rannten los. Hunde-Pascal folgte uns nicht. Gelangweilt lag er vor seinem leeren Hierbas und starrte auf das Gläschen.
Das Wasser war herrlich. Die Kälte trieb mir zumindest etwas den Schmaps-Nebel aus dem Kopf, den die neun Arriba-abajo-alcentro-paradentro hinterlassen hatten. Zielsicher steuerte ich auf die Schaluppe zu, die im Meer schwamm. Tina hatte sie überraschend schnell erreicht. Flink kletterte sie an Bord. Der Sonnengott, Pablo, Bert und ich erreichten als nächste das kleine Ruderboot und hievten uns hoch. Tina grinste. Es gefiel ihr, dass sie nun die einzige Frau in der Runde war. Schwer keuchend kamen auch Hannes und Lukas an.
Feierlich – schließlich hatten wir gerade ein Boot gekapert – erhob ich mich und rief: „Ay, Piraten! Wir segeln an den Strand und gehen an Land!“ Zur Bestätigung stampfte ich mit dem rechten Fuß auf. Ein Fehler!
Mein Fuß durchstieß den morschen Holzboden. Wasser drang ein und begann, unsere Beute zu füllen. „Ay, jetzt aber schnell“, befahl der Sonnengott. Mit vereinten Kräften paddelten wir das schrottige Etwas, das einmal ein Boot gewesen war, Richtung Strand. 30 Meter vom Ziel entfernt ragte schon kein Holz mehr aus dem Wasser, sodass wir das Boot unter Wasser ziehen mussten. Gar nicht so einfach. Endlich, nach einer gefühlten halben Stunde, gingen wir an Land. Enttäuscht stellten wir fest, dass Hunde-Pascal sich so gar nicht über unsere reiche Beute freute. Er trottete an die Bar. Scheinbar hoffte er dort auf weitere Hierbas.
„Zumindest haben wir jetzt ein Boot zur Sicherheit“, murmelte ich. „Also, falls die Insel untergeht oder so.“
Der Sonnengott nickte: „Und ich weiß auch schon, wofür ich das brauchen kann!“
Von der Kaperaktion durstig, erinnerte ich daran, dass Lukas der Letzte an der Nussschale war und noch einen Hierbas ausgeben musste. Nach dem zehnten Arriba-abajo-alcentro-paradentro zog Tina kichernd ihr Bettlaken wieder an. Schade.
Fünf Tage zuvor, immer noch Tag eins: Staubsauger
Das Abendessen zog im verschwommenen Dunst der Nachmittagsspirituosen an mir vorbei. Zu fünft saßen wir in dem großen Essenssaal. Pascal und Kerstin schienen beschäftigt. Hunde-Pascal hatte uns endgültig verlassen. Der Sonnengott musste sich auf die Abend-Show vorbereiten. Tina wollte sich erstmal schlafen legen.
Ich füllte meinen Magen, amüsiert vom Restalkohol und von Bert. Denn mein Freund mit dem tief fränkischen Akzent und den großen Maler-Pranken unterhielt den kompletten Saal. Als er sah, wie lang die Schlange vor dem Buffet war, schnappte er sich einen großen Teller und schimpfte kopfschüttelnd: „Ich laaf bloß ah anzigs mol.“
Energisch griff er an der Salatbar zum Löffel. Er tat dies dann nicht nur an der Salatbar, sondern auch bei den Beilagen. Beim Fleisch, beim Fisch, bei den Soßen und den Desserts. Auf seinem Teller stapelten sich – von unten nach oben – grüner Salat mit Tomaten und Joghurtdressing, Nudelauflauf und Kartoffelsalat, zwei Schnitzel Wiener Art, ein Hähnchenschenkel, Garnelen in Knoblauch, einige Scheiben Weißbrot, Bolognesesoße, ein Stück Marmorkuchen und Vanille-Creme. Wie einen Jengaturm balancierte er sein Festmahl an den Tisch. Verwirrt nahmen die anderen Gäste Berts extravagante Menü-Auswahl zur Kenntnis. Ihn störte das freilich wenig, er kaute und schluckte er unnachgiebig wie ein Dieselmotor.
„Wos mach mer denn heut nuch?“ fragte Bert schmatzend.
„Der Sonnengott hat gesagt, wir sollen uns die Show ansehen, die machen heute Phantom der Oper“, meinte Lukas.
„Und dabei glühen wir vor“, ergänzte ich.
Übermüdet von einem harten ersten Tag und trotzdem fest gewillt, abends noch steil zugehen, schwiegen wir uns an. Ich hatte zum ersten Mal seit unserer Ankunft Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Natürlich stolperte ich dabei über eine ganz bestimmte Massen-MMS. Was sollte diese dämliche Nachricht bringen? Ein Update für Anasthasia, dass ich dabei war, mich auszuvögeln? Das hätte sie – in meinen Augen – herauslesen sollen. Aber war es nicht totaler Blödsinn, das anzunehmen? Ich hatte sie schlicht und ergreifend – zumindest wollte ich sie das glauben machen – zufällig darüber informiert, dass ich Urlaub auf Ibiza machte. Nicht mehr, nicht weniger. Aber wohin führte das? Vielleicht machte sie sich ja sogar Sorgen, dass ich mir tatsächlich eine andere anlachen würde beim Ausvögeln auf Ibiza? Nein. Ich schüttelte