Wir saßen in einem Großraumtaxi vom Format Dorf-Schulbus und prosteten uns im Minutentakt zu. Wir, das sind meine Wenigkeit, Pascal und Lukas sowie eine kleine, exquisite Auswahl meines weiteren Freundeskreises: Pablo, ein Halbkolumbianer mit stahlblauen Augen. Bert, der Wischdechnigg-Fatalist mit großem Durst und noch größerem fränkischen Akzent. Und Hannes, der zu jeder Tages- und Nachtzeit aussichtsreiche Chancen hätte, eine Konkurrenz zum schlechtestgekleideten Mitteleuropäer zu gewinnen. An diesem Tag stach er allerdings in keinster Weise negativ aus unserer Gruppe hervor. Für den Start unseres sechstägigen Urlaubs im Club Punta Arabi auf Ibiza hatten wir uns alle in die gleiche Schale geworfen: Flip-Flops, Blümchenshorts, rosa-weiß gestreiftes Polo und Havana-Club-Strohhut.
Weil Werner in der Einfahrt des Flughafens etwas zu abrupt bremste, schäumte mir das Bier aus der Nase.
„Ey Toni, bass auf mei Sitze auf“, maulte er. „Wennst fei nimmer konnst, gehst haam.“
Er, unser Stammtaxifahrer, hatte uns eigens für den etwa einstündigen Transfer zum Flughafen eine Kiste feinsten Mönchsambacher Exports mitgebracht – ein Trunk wie das Badewasser von Jennifer Lopez. Als er begann, unsere Koffer auszuladen, beeilte ich mich, das letzte Bier hineinzustürzen. Ich fröstelte. Obwohl die Sonne bereits schien, war es empfindlich kalt. Kein Wunder: Es war auch erst kurz nach 6 Uhr morgens.
„Also, in einer Woche wieder hier“, grinste Pablo und steckte Werner ein Bündel Scheine zu. Werner nickte.
„Widder mit am Kasten?“
„Freilich“, antwortete Pascal.
Ich verabschiedete mich von unserem Stammtaxifahrer, der die urfränkische Unhöflichkeit mit der Muttermilch aufgesogen hat, packte meinen blaugrauen Reisetrolley und rief übermütig in die kühle Morgenluft hinein: „Yeeehaaaa!“
Die Fluggesellschaft schien unsere aufgekratzte Stimmung nicht zu teilen. Nachdem wir Halle I des beschaulichen Nürnberger Flughafens betreten hatten, las Pascal laut von der flatternden, grauen Anzeigetafel vor: „Flug 5627-DE nach Ibiza, 47 Minuten Verspätung. Scheiße!“
„Wos hasd do Scheiße?“ fränkelte Bert zurück. „Kömmer wenigsdens ans Trinken!“
Also zog die sechsköpfige Spaßtouristenkarawane zur Gepäckaufgabe und danach weiter an die erstbeste, geöffnete Flughafengastronomie und bestellte ein halbes Dutzend Weißbier. Ich nutzte die Gelegenheit und kramte aus der Po-Tasche meiner kaki-braunen Shorts mit unfassbar hässlichem, grünen Blumenaufdruck ein Kuvert hervor. Fragend blickten mich Bert und Hannes an. Pascal, Lukas, Pablo und ich hatten uns vorab einige Gedanken gemacht, um den Urlaub ein bisschen spannender zu gestalten. Wir hatten uns nach kurzer Diskussion auf einen Wettstreit geeinigt – einen Wettstreit in Sachen Feierei, Sex und peinlichen, nächtlichen Irrungen, für die sich jeder halbwegs anständige Mann am nächsten Morgen schämt. Vor allem der Aufreißer-Wettbewerb war mir Herausforderung und Anliegen zugleich. Denn ich hatte schließlich eine Mission zu erfüllen. „Vögel dich mal richtig aus!“ Unter diesem Leitmotiv sollte mein Urlaub stehen.
Ich erklomm einen Barhocker, nestelte die zusammengefalteten Blätter aus dem Kuvert, auf dem in fetten Lettern „Giro de Punta“ stand, und begann, zu deklamieren: „Ladies and Gentlemen.“
Die ersten verstörten Blicke anderer Touristen trafen uns bereits jetzt, bevor unser Urlaub richtig begonnen hatte.
„Erheben Sie sich für den einmaligen, den einzigartigen, den unwiderstehlichen Giiiirooooo de Puuuuntaaaaa“, michael-bufferte ich wie der legendäre Box-Ansager.
Pascal jokerte mir entgegen: „Jetzt kommt's, jetzt kommt's!“
„An diesem edlen Wettstreit nehmen die sechs Girondisten, die Bamberger Jungs teil. Es geht nicht um schnöden Mammon“, las ich vom Zettel ab. „Es geht alleine um die Ehre – und das gelbe, das grüne und das gepunktete Trikot.“
„Hä?“ Hannes und Bert begriffen nicht. Konnten sie auch nicht, schließlich hatte niemand sie eingeweiht.
„Das gelbe Trikot“, setzte ich erneut an, „erhält der Girondist, der am längsten feiert!“ Applaus. „Gezählt werden die Stunden, die er an einem Tag ab 12 Uhr mittags am Stück wach ist. Macht er durch, bekommt er selbstverständlich eine Bonusstunde, sofern er nicht vor 24 Uhr des Folgetages ein Auge zumacht.“
„Das grüne Trikot gehört am Ende dieser Tournee dem Girondisten, der am meisten in der Horizontalen unterwegs ist. Dafür gibt es folgenden, vom internationalen Matratzensportverband abgesegneten Punkteschlüssel. Sex mit einer Frau: 10 Punkte. Ein weiteres Mal mit der gleichen Frau: 5 Punkte. Ein drittes Mal: 0 Punkte. Sex mit ihrer Zimmergenossin: 10 plus 5 Extrapunkte. Sex am Strand: 20 Punkte. Sex mit einer Animateurin...“
Das gespielte Raunen der fünf weiteren Girondisten unterbrach meinen Monolog.
„Meine Herren“, empörte ich mich und tat so, als würde ich ein imaginäres Monokel zurechtrücken. „Mit einer Animateurin: 50 Punkte!“ Der Lasziv-Sportlertrupp klatschte frenetisch.
„Und nun die Königsdisziplin! Das gepunktete Trikot, die Bergwertung! Hier geht es nur ums Gewicht, ein Kampf Gut gegen Böse: Wer eine Maid aus dem Punta Arabi, deren Hüften rund und deren Busen voll ist, mit seiner Männlichkeit beglückt, der möge sie nach ihrem Gewicht in Kilogramm fragen. Jedes Kilo über 60 wird dabei als Punkt gewertet. Verrät sie ihm, was wahrscheinlich ist, ihr Gewicht nicht, schlägt sie ihn nach der Frage k.o. oder verspeist ihn, so ist am nächsten Tag der heilige Rat des Giro de Punta mit einer Gewichtsschätzung am Pool gefragt!“ Applaus und Gelächter arteten zu Gejohle aus.
Bert, den diese Proklamation unvorbereitet getroffen hatte, gab sich überzeugt: „Die Berchwerdung, die hol ich mir!“
Ich stieg vom Barhocker. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es Zeit fürs Boarding war. Ein Blick in Hannes glasige Augen, dass es Zeit war, ihm sein Weißbier wegzutrinken. Ich schnappte sein Glas, balancierte es liegend auf mein eigenes, kippte meinen Oberkörper nach hinten und ließ den Inhalt der beiden Gläser wie einen alpinen Sturzbach in meinen Mund laufen. Da war er wieder, der Samstags-Toni – mitten unter der Woche, um kurz vor 7 Uhr morgens.
Eine mit einem Werbepolo bekleidete Studentin, die sich mit dem Aufbau eines Kundenstandes eines fragwürdigen Mobilfunkanbieters abmühte, blickte voller Verachtung zu uns herüber. Sie trug eine magentafarbene Perücke aus billiger Kunstfaser. Ihre Verkleidung mit dem Fremdschämfaktor 27 ließ sogar mich im Spaßtouristen-Outfit im Boden versinken. Bert schaffte es jedoch, noch ein bisschen peinlicher zu sein als die Mobilfunkschnalle.
Er grölte sie an: „Roder Fugs, dei Hoor brennd o, schmier a Häufla Scheißdregg no!“
Pikiert blickte die Telekommunikations-Trulla ihn an. Offenbar hatte sie nicht verstanden, was Bert ihr da in der hartkonsonantenfreien Sprache der Franken an den Kopf gereimt hatte. Es bedeutet ungefähr: Roter Fuchs, dein Haar brennt, lösch es mit einem Haufen Kot! Kernig, deftig, fränkisch. Und ein klein bisschen asozial. Wahrscheinlich ist es dem Umstand, dass sie Berts Worte nicht entschlüsseln konnte, zu verdanken, dass die Security darauf verzichtete, uns zur Ganzkörperkontrolle zu begleiten.
Ich drückte Pablo die Zettel mit den Listen für die Giro-Wertung in die Hand. Er friemelte sie in einen grünen Schnellhefter, verstaute diesen im Rucksack und lachend verzogen wir uns Richtung Terminal.
Der Sicherheitscheck verlief überraschend ereignislos, also hatten wir Zeit, uns im Duty-Free-Bereich mit Nachschub einzudecken. Staunend lief ich durch die Reihen edler Whiskeys und hervorragender Brände. Zu was sollte ich greifen?
„Das ist nicht Ibiza“, stellte sich mir Pascal in den Weg, als ich mir eine Flasche „Glengoyne Irish Whiskey“ näher anschauen wollte. Er drückte mir ein fantasielos geformtes Objekt mit pissgelbem Inhalt in die Hand. „Das ist Ibiza!“
„Berentzen Apfel“ las ich von dem Etikett. Ich griff zu. Zimmertemperatur.
In seiner rechten Hand hielt Pascal eine gleich geformte Flasche mit rotem Inhalt.