Blutige Fäden. Fabian Holting. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Holting
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738039313
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Zukunft dazu in der Lage war? Gab es eine begründete Hoffnung, dass sich zukünftige Generationen änderten? Noch immer gab es grausame Gewaltverbrechen, unvorstellbare Massaker und zum Himmel schreiendes Unrecht. Ich wandte der Gedenktafel den Rücken zu und ging. Zur Fakultät der Naturwissenschaften war es nicht mehr weit. In wenigen Minuten endete die Vorlesung, in der ich Melanie vermutete.

      Ich hatte tatsächlich richtig gelegen und lächelte zufrieden in die Traube von Studenten hinein, die mir aus dem Hörsaal entgegen strömte. Gleich vornean Melanie, als hätte sie einen Platz an der Ausgangstür gewählt, um der Langweile gegebenenfalls als Erste entkommen zu können. Sie trug ein figurbetonendes rot-weißes Kleid und eine blickdichte, schwarze Wollstrumpfhose. Ihre hübschen Beine steckten in engen Lederstiefeln, deren Schaft bis zur Kniekehle reichte. Ihre rote Softshelljacke baumelte über einer blauen Umhängetasche der Marke Vaude. Vermutlich hoffte sie, die Sonne hätte am Vormittag genug Kraft entwickelt, um im Kleid über den Campus zu schlendern. Ich war mir da nicht so sicher und machte, wie ein Tanzschüler in seiner ersten Stunde, mit einer ungelenken Handbewegung auf mich aufmerksam. Es dauerte zwei Sekunden, bis sich ihre Gesichtszüge aufhellten und ich mir sicher sein konnte, dass sie mich erkannt hatte.

      »Ich dachte, du hast dein Studium abgebrochen.« Diese Bemerkung war nicht ernst gemeint, daher fügte sie sofort hinzu: »Immer noch auf der Suche nach Sascha?«

      »Richtig, ich habe mich gerade nach seinem Praktikumsplatz erkundigt.«

      »Und?«

      »Jetzt schon Lust auf einen Kaffee?«, fragte ich, anstatt auf ihre Frage zu antworten.

      »Mhm, ich wollte eigentlich die Zeit bis zur nächsten Veranstaltung für einen kurzen Abstecher in die Bibliothek nutzen. Aber warum nicht.«

      Ich sah sie zufrieden an und verschwendete einen kurzen Gedanken daran, ihr die Tasche abzunehmen, doch das wäre auf dem Campus albern und unpassend gewesen. Sie schlug das Café dell Arte vor. Ich hatte nichts dagegen, obwohl ich lieber ins Café Canela gegangen wäre. Für Cappuccino, Latte macchiato und Roibuschtee hatten Studenten immer genug Zeit und Geld. Das Café war entsprechend gut besucht. Neben den Tassen, Bechern und hohen Gläsern stapelten sich auf den Tischen Lehrbücher, Notizblöcke und Notebooks. Pralle Büchertaschen besetzten die noch wenigen freien Stühle. Jacken hingen an den Rückenlehnen. Ein reger Gedankenaustausch bildete die Geräuschkulisse. Einige schienen sich auf das nächste Übungsseminar vorzubereiten, indem sie noch die letzten Aufgaben auf den Arbeitszetteln lösten. Während Melanie mich fragend ansah, wurde doch noch ein Zweiertisch frei. Melanie lehnte ihre Umhängetasche ans Stuhlbein und dann setzten wir uns. Sie sah mich erwartungsvoll an und ich dachte nur an ihren hübschen Mund.

      »Und Herr Matula, was haben Sie herausgefunden?«

      Als ich antworten wollte, trat die Bedienung an unseren Tisch. Ein junger, muskelbepackter Mann. Sportstudent, nahm ich an. Melanie sah aufreizend zu ihm auf und bestellte einen Café au Lait. Ich orderte einen Espresso und ein Glas Wasser. Die Mischung aus Daniel Craig und Supermann-Darsteller Henry Cavill drehte wieder ab. Melanie betrachtete kurz seinen knackigen Hintern.

      »Sascha hat ein Praktikum bei einem Modedesign-Unternehmen gemacht«, sagte ich schließlich. »Es heißt Maren Hagena.«

      Melanie fuhr sich durch ihre blonden Haare und spitzte die hübschen Lippen. »Richtig, jetzt erinnere ich mich. Irgendwann hatte er es beiläufig erwähnt. Außerdem sprach er von einem netten Mädchen, das er dort kennengelernt hat.«

      »Ach«, bemerkte ich knapp.

      »Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an. Ich hatte bisher Wichtigeres zu tun, als mir den Kopf über meine Mitbewohner zu zerbrechen.«

      Ich hob beschwichtigend die Hand. »Dein Kleid ist sehr schön«, sagte ich zur Versöhnung.

      »Ja, findest du. Danke für das Kompliment.«

      Ich lächelte sie an. In diesem Moment schwebte der muskulöse Arm des vermeintlichen Sportstudenten plötzlich über dem Tisch. Er stellte die Getränke der Reihe nach vor uns hin. Er schien darin einige Übung zu haben, sodass ich mir mit dem Sportstudenten nicht mehr sicher war. Als er wieder weg war, fragte ich Melanie: »Was lief denn sonst so mit Sascha und den Frauen?«

      Melanie seufzte auf. »Woher soll ich denn das wissen, schließlich bin ich nicht in Hamburg, um meine Mitbewohner zu studieren, sondern Biologie und Deutsch.«

      »Immerhin hat er dir von dem Mädchen erzählt, das er bei seiner Praktikumsstelle kennengelernt hat.«

      »Ich glaube, er wollte damit angeben.« Melanie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. Dann sagte sie: »Als ich ins Wohnheim zog, hatte ich den Eindruck, dass Sascha was von mir wollte.«

      »Du hattest aber kein Interesse«, kam ich ihr zuvor. Sie sah mich empört an und führte ihre Schale Café au Lait an den Mund. Noch bevor sie daran nippte, warf sie mir einen bösen Blick zu. »Sascha ist weiß Gott nicht mein Typ. Du hast doch ein Foto von ihm. Glaubst du, dass ich auf ....« Sie machte eine Pause. »Auch egal«, sagte sie schließlich und trank von ihrem Milchkaffee.

      »Du meinst auf Muttersöhnchen stehst?«

      Melanie lachte auf und stellte die Schale zurück auf den Tisch. »Vielleicht auch das«, bemerkte sie vielsagend. Ich trank meinen Espresso. Melanie begrüßte winkend zwei Bekannte, die gerade ins Café gekommen waren. Sie setzten sich ans andere Ende des Raums. Ich konnte Sascha, was Melanie betraf, jedenfalls gut verstehen.

      »Wenn du es genau wissen willst. Auf mich machte Sascha den Eindruck, als hätte er noch nie eine Freundin gehabt, so verklemmt, wie er war, wenn wir allein miteinander waren.« Melanie trank wieder von ihrem Milchkaffee. Ich erinnerte mich an das Glas Wasser, das vor mir stand und nahm einen Schluck. »Habt ihr denn viel miteinander gesprochen?«

      »Mehr, als mir manchmal lieb war. Da fällt mir ein, er hat mir sogar ein Foto von seiner Flamme gezeigt.«

      »Und, wie sah sie aus?«

      »Ungefähr mein Alter würde ich sagen, ganz hübsch sogar.« Melanie schenkte mir einen reizenden Augenaufschlag.

      »Hat er denn gesagt, dass er mit ihr bereits zusammen sei?«

      »Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, er hat gesagt, so gut wie, was auch immer er damit gemeint haben mochte.«

      Ich trank wieder einen Schluck von meinem Wasser und reimte mir zusammen, dass Sascha also mit seiner Eroberung in den Urlaub gefahren sein könnte. Bei einem Typ wie Sascha war die Vorstellung, er wäre zu so einer spontanen Entscheidung fähig, etwas gewöhnungsbedürftig. Aber irgendwann platzte bei jedem Mal der Knoten. Wahrscheinlich würde sich mein erster Fall in den nächsten Tagen von ganz allein lösen. Sascha würde mit seiner neuen Freundin braungebrannt nach Hamburg zurückkehren und alles wäre erledigt. Während ich so vor mich hin grübelte, riss Melanie mich mit einer seltsamen Frage aus meinen Gedanken. »Hat der andere auch etwas abbekommen?«

      Erst wusste ich nicht, was sie meinte. Als mir gleich darauf klar wurde, dass sie auf meine Narbe über dem Auge anspielte, war ich mir unsicher, was ich Melanie genau darüber erzählt hatte. Frau Kessler gegenüber hatte ich von einer Sportverletzung gesprochen. Also antwortete ich flapsig: »Der lag mit gebrochenem Unterkiefer drei Wochen in Eppendorf.« Melanie zog die Stirn kraus. Sie schien mir nicht zu glauben.

      »Nein, natürlich nicht. Ich bin ein friedliebender Mensch und habe mich diskret zurückgezogen.« Wie die letzten Tage auch, wenn ich an meine noch nicht ganz verheilte Narbe erinnert wurde, begann sie wieder leicht zu pochen. Ich tastete vorsichtig nach ihr und meinte, sie wäre wieder etwas angeschwollen.

      »Tut sie weh?«, fragte mich Melanie.

      »Nicht richtig«, antwortete ich.

      »Aber sie ist leicht gerötet«, sagte Melanie und sah auf ihre Uhr. »Viel Zeit habe ich nicht mehr.«

      »Schade«, entgegnete ich und dabei kam mir der Gedanke, dass ich sie noch zu Thomas befragen wollte, auch wenn für mich der Fall eigentlich klar war und ihr Mitbewohner mit dem offensichtlichen Hang zum Drogenkonsum