Blutige Fäden. Fabian Holting. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Holting
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738039313
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die man sonst nur in den Bergen zu Gesicht bekommt. Dafür war es empfindlich kalt. Deutlich unter zehn Grad und im Radio sprachen sie von der Schafskälte, die die nächsten Tage noch anhalten sollte. Zu meiner Überraschung fand ich einen Brief in meinem Briefkasten und es schien noch nicht einmal Werbung zu sein. Ich nahm ihn mit hinauf in mein Büro. Auch der Schnellhefter von Frau Kessler hatte mich wieder begleitet. Ich warf beides auf meinen Schreibtisch und setzte mir einen starken Kaffee auf. Während der Kaffee gluckernd durchlief, betrachtete ich Saschas Kladde. Vielleicht hatte er sich dort Notizen gemacht, die ausnahmsweise nichts mit der Uni zu tun hatten. Ich schmiss mein Ultrabook an. Wieder keine E-Mails, stellte ich enttäuscht fest. Schließlich nahm ich mir den Brief vor. Er war von einem Hamburger Speditionsunternehmen. Ich öffnete ihn und stellte zu meiner angenehmen Überraschung fest, dass es eine Angebotsanfrage für eine Mitarbeiter-Überwachung war. Ich sollte ihnen meinen Stundensatz und die anfallenden Nebenkosten mitteilen. Das wirtschaftlich beste Angebot würde den Zuschlag erhalten. Ich machte mich sofort an die Arbeit. Den Stundensatz setzte ich noch niedriger an, als bei Frau Kessler. Irgendwie musste ich mich ja von den anderen abheben. Ich sendete das Angebot vorab per E-Mail und tütete den unterschriebenen Ausdruck ein. Wenn ich zur Uni fuhr, wollte ich den Briefumschlag mitnehmen und ihn in den ersten Briefkasten, der mir über den Weg lief, einwerfen. Fürs Erste war ich mit mir zufrieden. Es tat sich mehr, als ich mir für die ersten Tage erhofft hatte. Die Kaffeemaschine hatte längst die letzten zischenden und puffenden Geräusche von sich gegeben, sodass ich in die kleine Küche eilte, um mir eine anständige Tasse Kaffee zu holen. Den Rest des Kaffees goss ich in die Thermoskanne. Meinen Kaffeebecher stellte ich auf meinen Schreibtisch direkt neben Saschas Kladde. Bevor ich sein Notizheft aufschlug, sah ich mich noch einmal in meinem kleinen Reich um. Wenn alles gut lief, würde ich später vielleicht sogar Angestellte haben, träumte ich.

      Wie nicht anders zu erwarten war, hatte Sascha in seiner Kladde während der Vorlesungen mitgeschrieben. Es ging los im ersten Semester. Obwohl dieses Semester bereits fast drei Jahre zurücklag, blätterte ich dennoch Seite für Seite um und überflog sämtliche Notizen. Die erste Vorlesung hatte den Titel Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Auf der nächsten Seite Grundlagen der Wirtschaftsinformatik und so ging es weiter. Da Sascha offenbar alles in diese eine Kladde geschrieben hatte, konnte ich mir einen schnellen Überblick über alle Vorlesungen machen, die er in diesem Semester besucht hatte. Gelegentlich hatte Sascha sich auch Verabredungstermine mit Kommilitonen notiert. Meist standen nur die Vornamen dort. Ich schrieb sie mir trotzdem alle auf. Dann folgten die Vorlesungen zu Saschas Schwerpunkt Marketing und Medien, wie es genau hieß. Wie nicht anders zu erwarten war, hatte die erste Vorlesung den Titel Einführung ins Marketing. Es ging weiter mit der Veranstaltung Markenpolitik. Einige Seiten später folgte ein Seminar mit dem Titel Markstrat. Ich hatte selbstverständlich keine Ahnung, welche Inhalte sich dahinter verbergen mochten. Weil ich neugierig geworden war, fragte ich meinen Browser, der mir auf Anhieb die richtige Erklärung lieferte. Markstrat war ein Simulationsspiel, bei dem die Spieler Entscheidungen zu den Handlungsbereichen Marketing, Finanzen, Marktuntersuchungen und Produktentwicklung treffen mussten. Also so ähnlich wie der EA-Fußball Manager schloss ich daraus. Vielleicht hätte ich doch BWL studieren sollen. Ich blätterte weiter. Die Anzahl der Notizen wurde immer dürftiger. Auf den letzten Seiten hatte er sich häufig nur noch Klausurtermine und Hinweise der Professoren zu Prüfungsschwerpunkten und empfehlenswerter Vorbereitungs-Literatur notiert. Dennoch hatte ich einen interessanten Abriss von Saschas Studium vor mir liegen. Auch zu einem Rechnerpraktikum hatte er Aufzeichnungen gemacht. Dieses Praktikum konnte Frau Kessler aber wohl nicht gemeint haben, überlegte ich. Ich besuchte vorsichtshalber die Internetseiten des Fachbereichs. Es war eine EDV-Schulung. Endlich befand ich mich auf den allerletzten Seiten des Heftes. Etwas überrascht musste ich feststellen, dass die letzten Eintragungen von Ende März dieses Jahres waren, doch verschwunden war er erst Mitte Mai. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass Seiten herausgerissen worden waren. Wenn Sascha es selbst gemacht hatte, dann musste er sich sehr viel Mühe dabei gegeben haben, denn nur bei genauem Hinsehen, konnte man die Abtrennlinie erkennen. Die Seiten schienen mit einem Cutter herausgetrennt worden zu sein. Ich musste sofort an Saschas nicht abgeschlossene Zimmertür im Studentenwohnheim denken. Hatte Frau Kessler wirklich wieder abgeschlossen? Wenn ja, dann musste sich jemand Zugang verschafft haben. In meinem Büro konnte ich darauf keine Antwort finden und so nahm ich noch einen großen Schluck Kaffee und sprang auf, um endlich der Universität einen Besuch abzustatten. Ich hatte die Türklinke schon in der Hand, als mir einfiel, dass es mir helfen könnte, wenn ich einige ausgedruckte Seiten aus dem Vorlesungsverzeichnis dabei hätte. Schließlich wollte ich Saschas Kommilitonen aushorchen. Ganz einfach würde die Sache nicht werden, denn so ganz klein war der Fachbereich Wirtschaftswissenschaften nicht. Aber es waren ja nicht alle Studenten in Saschas Semester. Beim Aufrufen der Vorlesungsverzeichnisse auf der Homepage der Universität Hamburg dachte ich auch an Miss Hotpants. Vielleicht konnte ich sie auf dem Campus irgendwo abpassen, dann brauchte ich nicht bis zu unserer Verabredung um vier Uhr zu warten. Ich druckte mir die entsprechenden Seiten aus und marschierte los.

      Die Sonne schien harmlos von einem noch immer wolkenlosen Himmel. Doch der Schein trog, es war empfindlich kalt draußen. Da ich meine Jacke im Büro gelassen hatte, war ich froh, dass auf der Rückbank noch mein Pullover lag. Auch wenn die Universitätsgebäude nicht den allerschönsten Anblick lieferten, hatte man doch einen recht ansehnlichen Stadtteil für die Akademikerschmiede gewählt. Parksee, Wallgraben und Außenalster in unmittelbarer Nähe. Etwas viel Verkehr vielleicht auf den breiten Straßen und dann die gewagte Architektur der Neubauten von Firmen, die auf der Welle der innovativen Denkfabriken mitschwimmen wollten. Ich parkte an der Außenalster ganz in der Nähe des Germania Ruder Clubs. Von hier aus waren es zwar noch ein paar Schritte bis zu den Räumlichkeiten der betriebswirtschaftlichen Fakultät, doch die nahm ich gerne für einen Blick über die Außenalster in Kauf. Die Wasseroberfläche glänzte glatt in der Sonne. Zwei weiße Segel fast am anderen Ufer und ein Doppelvierer ohne Steuermann ganz in meiner Nähe nutzten den sonnigen Vormittag für ein Außenalstervernügen. Das letzte Mal hatte ich mich hier beim Schlittschuhlaufen vergnügt. Um diese Jahreszeit war es kaum vorstellbar, dass die ganze Wasseroberfläche zu Eis erstarren konnte. Ich stand noch einige Augenblicke in der Sonne und glotzte hinaus aufs Wasser. Dann gab ich mir einen Ruck und ging los. Es war bereits zwanzig Minuten vor elf. Um Studenten aus Saschas Semester zu treffen, hatte ich mir eine Vorlesung mit dem sperrigen Titel Rechnungslegung der Versicherungsunternehmen herausgesucht. Die Veranstaltung hatte um acht Uhr begonnen und sollte um elf Uhr enden. Außerdem begannen um Viertel nach elf Übungen zur Marktforschung im gleichen Gebäude. Selbstverständlich kannte ich mich auf dem Campus gut aus. Ich musste zum Von-Melle-Park. Über die Architektur der Universitätsgebäude konnte man ebenfalls geteilter Meinung sein oder einfach nur freundlich darüber hinwegsehen. Der WiWi-Bunker, wie er unter den Studenten liebevoll genannt wurde, war ein grauer Betonklotz. Die klassische Betonarchitektur der siebziger Jahre eben, gebaut für die geburtenstarken Jahrgänge. Das Gebäude wirkte nicht gerade einladend und doch verband ich einige gute Erinnerungen damit. Hier fanden regelmäßig Studentenpartys statt, auf denen es hoch herging. Besoffen konnte man das Lehrgebäude am besten ertragen. Im WiWi-Bunker, dem Stammhaus der Wirtschaftswissenschaften, gibt es in vielen Hörsälen noch nicht einmal Fenster, geschweige denn funktionierende Lüftungen. Auch von Stromausfällen erzählte man sich zu meiner Studentenzeit. Während die deutsche Wirtschaft jedes Jahr Exportweltmeister wurde, vergammelten allmählich die Einrichtungen, die für die Voraussetzungen dieser Erfolgsgeschichte sorgten. Mir war es mittlerweile egal und das Kreuz an der vermeintlich richtigen Stelle zu machen, änderte schon seit vielen Jahren nichts mehr an diesem Zustand. Vor der Eingangstür standen blasse Studenten und rauchten hastig. In den Fluren herrschte noch immer die ehemals moderne Atmosphäre der Siebziger, die an Schlaghosen, Ölkrise, Terroranschläge und Fahndungsplakate denken ließ. Es roch nach alten Teppichböden, im Kreis geführter Luft und trockenem Staub. Auch wenn ich längst mit dem Kapitel Uni abgeschlossen hatte, so überkam mich in den Fluren doch unweigerlich das Gefühl von undurchdringlichem Lernstoff und Prüfungsangst. Ich gelangte zum Hörsaal mit der richtigen Nummer. Die Tür stand offen. Ich sah vorsichtig hinein. Es war einer der mittelgroßen Hörsäle. Gelangweilte Gesichter drehten sich zu mir um. Die Stimme des Professors drang leise herüber. An die Wand hatte er ein Schaubild geworfen mit Zahlen und Abkürzungen, von denen ich nicht die geringste