Eine Stunde später verließ ich mein Büro wieder. Es war mittlerweile kurz nach zwölf. Mein Exkollege Thorsten hatte sich noch nicht gemeldet. Ich fuhr zu Saschas Praktikumstelle. Maren Hagena GmbH & Co. KG stand in großen schwarzen Lettern auf einer Aluminiumtafel. Das rot verklinkerte Gebäude war Teil einer alten Fabrik, das zu Loft-Büros umgebaut worden war. Das Modelabel Hagena hatte das Erdgeschoss und zwei weitere Etagen übernommen. In der dritten Etage war ein Architekturbüro untergebracht. Im zum Penthouse ausgebautem Dachgeschoss hatte sich ein Schiffsmakler einquartiert. Durch eine zweiflüglige Glastür gelangte ich in das Foyer des Modedesignerunternehmens. Auf champagnerfarbenen Fliesen ging ich auf einen Empfangstresen zu, hinter dem eine junge blonde Frau vor einem Flachbildschirm saß. Sie war vielleicht Anfang zwanzig und hatte ihre Haare straff zurückgebunden. Ihr Gesicht war dezent geschminkt. An den Wänden hingen von grellem Licht angestrahlte Entwurfsskizzen von Kostümen, Blazern, Blusen und diversen Mänteln. Die Köpfe und Beine der skizzierten Frauenkörper waren nur angedeutet und verloren sich im Nichts. Bis auf den Empfangstresen, einen nüchternen Garderobenständer und eine Sitzgarnitur, bezogen mit weißem Leder und einem Glastisch davor, war das Foyer kalt und leer. Die Frau hinter dem Empfangstresen wandte sich mir halb zu. Erst jetzt erkannte ich, dass sie einen Telefonhörer am Ohr hatte. Ich wartete geduldig. Ein Mann und eine Frau, beide höchstens Mitte zwanzig, durchquerten das Foyer. Auf den Armen jonglierten sie Stoffballen in verschiedenen Pastellfarben. Sie achteten nicht auf mich.
»Bitte«, fragte die Blondine, als sie endlich aufgelegt hatte. Ich stellte mich kurz vor und hielt ihr meine Visitenkarte hin. Sie nahm sie ehrfurchtsvoll entgegen und starrte sie einige Sekunden an, als müsste sie sich vergewissern, dass ich nicht gelogen hatte.
»Ist es richtig, dass Sascha Kessler hier vor einigen Wochen ein Praktikum gemacht hat?«, fragte ich sie schließlich. Die Empfangsdame legte meine Visitenkarte beiseite und sah mich nachdenklich an. Ihre Augen, die mit schwarzem Kajal markant betont waren, entdeckten mein Veilchen und die Narbe über meinem Auge. Leider konnte ich keine Gedanken lesen.
»Ja, das ist richtig. Herr Kessler hat hier sein Praktikum absolviert. Das ist noch gar nicht so lange her.«
»Saschas Mutter hat seit über drei Wochen nichts von ihrem Sohn gehört und macht sich mittlerweile sorgen um ihn«, sagte ich und vermied bewusst das Wort vermisst, um die Sache nicht dramatischer klingen zu lassen, als sie tatsächlich war.
»Und wie können wir Ihnen da behilflich sein?«, fragte sie mich und spielte währenddessen mit den Fingern an der Silberkette, die um ihren schönen Hals hing.
»Vielleicht ist er nur verreist und hat darüber gesprochen. Hatten Sie auch mit ihm zu tun?«
»Nein, ich bin nur halbtags hier. Außerdem hatte ich kurz nachdem Herr Kessler angefangen hat, drei Wochen Urlaub.« An ihrem leicht gebräunten Teint konnte man ihr den Urlaub noch ansehen.
»Wer hat denn Herrn Kessler während seines Praktikums betreut?«
»Das weiß ich nicht genau. Auf alle Fälle war er in der Marketingabteilung. Warten Sie, ich sage jemandem aus der Personalabteilung Bescheid.« Sie griff zum Hörer. Eine elegant gekleidete Frau, mit einer tollen Figur, betrat das Foyer. Sie trug einen marineblauen Blazer und dazu einen kurzen Rock, der knapp über den Knien endete. Die brünetten Haare hatte sie hochgesteckt. Die Absätze ihrer hohen Schuhe klackten über die Fliesen. Im Gehen musterte sie mich kurz, aber gründlich. Schließlich nickte sie mir zu. Mit meinem aufblühenden Veilchen unter dem Auge und der geröteten Narbe darüber musste ich einen verwegenen Eindruck auf sie machen. Als sie den Empfangstresen erreicht hatte, lächelte sie mich irritiert an. Sie nahm sich einen schmalen Ordner, der offenbar hinter dem Tresen für sie bereitgelegt worden war. Erst jetzt sah ich, dass sie keine junge Frau mehr war. Ich schätzte sie auf Ende vierzig. Ihr attraktives Gesicht war dezent geschminkt. Etwas Lidschatten, die Wimpern getuscht und ein Hauch von Rouge auf den Wangen. Mit dem Ordner in der Hand drehte sie wieder ab. Die Empfangsdame blickte etwas genervt zu mir auf. Am anderen Ende der Leitung schien niemand abzunehmen. Das wunderbare Klacken der Absätze hallte wieder durch das Foyer. Ich sah der Frau nach und heftete meinen Blick für einige Sekunden an ihre hübschen Rundungen. Schließlich wandte ich mich wieder der Empfangsdame zu, die endlich jemanden am anderen Ende der Leitung erreicht hatte.
»Ja, hallo Herr Schmidt. Hier ist ein Herr, der sich nach unserem Praktikanten Sascha Kessler erkundigen möchte.« Das Klacken brach abrupt ab. Die Frau im marineblauen Blazer war stehengeblieben. Sie wandte sich mir zu und klappte den Ordner auf. Vielleicht waren es nicht die richtigen Unterlagen. Ich hörte wieder der Empfangsdame zu.
»Nein, das nicht. Kommen Sie doch bitte einfach vorbei und sprechen Sie selbst mit dem Herrn.« Sie legte auf und rollte mit den Augen. »Herr Schmidt kommt sofort. Wenn Sie bitte kurz Platz nehmen möchten.« Sie deutete auf die weiße Sitzgarnitur. Die Absätze der hohen Schuhe waren wieder zu hören. Die Frau mit dem Ordner in der Hand hatte ihren Weg fortgesetzt und verschwand in einem langen Flur. Ich beugte mich über den Empfangstresen.
»Darf ich fragen, wer die Frau war, die sich gerade den Ordner geholt hat?«
Die Empfangsdame sah mich verblüfft an, als hätte sie meine Frage nicht verstanden. »Das war Frau Hagena, die Inhaberin. Sie haben bestimmt schon einmal ein Foto von ihr in der Zeitung gesehen.« Ich zuckte mit den Schultern und ging zur Sitzgarnitur. Ich nahm Platz und wartete. Fünf Minuten später tauchte Herr Schmidt im Foyer auf. Ein Mann mit Halbglatze. Nach seinem graumelierten Haarkranz zu urteilen, war er Anfang fünfzig. Er trug Jackett, weißes Hemd und keinen Schlips. Ich erhob mich. Wir gaben uns die Hand. Skeptisch betrachtete er mein zerbeultes Gesicht.
»Mein Name ist Terhagen, Sven Terhagen. Ich bin Privatermittler«, stellte ich mich vor und gab ihm meine Visitenkarte. Ich hatte beschlossen, auf mein derzeitiges Aussehen nicht einzugehen, schließlich ging es niemanden etwas an. Er betrachtete stumm die Visitenkarte. Anschließend blickte er mir wieder in die Augen, wie es wohl nur Personaler können.
»Sascha Kesslers Mutter hat mich damit beauftragt, ihren Sohn zu suchen. Sie hat seit etwa drei Wochen nichts mehr von ihm gehört«, sagte ich. Herr Schmidt sah mich prüfend an. »Das muss nicht unbedingt etwas bedeuten. Sie wissen ja sicherlich auch, wie besorgt Mütter sein können«, fügte ich hinzu.
Herr Schmidt verzog keine Miene. Ein Fahrradbote betrat mit einem kleinen Päckchen und mehreren großen Briefumschlägen das Foyer.
»Kommen Sie, wir gehen in mein Büro«, sagte Herr Schmidt ernst. Wir gingen in einen langen Flur, der mit einem schokobraunen Teppich ausgelegt war. Frau Hagena war den gleichen Weg gegangen.
»Hier entlang bitte. Gleich dort vorne ist es. Bitte sehr.« Wir betraten sein Büro. Die Tür zu einem Nebenzimmer stand offen. Ich hörte das Klappern einer Tastatur. Schmidt machte die Tür zu. Ich sah mich im Zimmer um. Die klassisch-schlichten USM-Büromöbel, nicht in Schwarz, sondern in Weiß. Schmidt bot mir einen Stuhl an seinem kleinen Besprechungstisch an, der dicht an der Wand stand. Ich setzte mich und sah ihm dabei zu, wie er die Schublade eines Sideboards öffnete. Seine Finger wählten aus einem Hängeregister eine schmale Mappe aus. Er betrachtete sie kurz und schob die Schublade wieder zu. Er legte die Personalakte auf den Besprechungstisch und setzte sich mir gegenüber. Ich las über Kopf den Namen Sascha Kessler, der auf dem Aktendeckel in Druckbuchstaben stand.
»Haben