Blutige Fäden. Fabian Holting. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Holting
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738039313
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      Als ich am nächsten Tag unausgeschlafen in mein Büro kam, erhielt ich kurze Zeit später einen Anruf. Es war das Unternehmen, das wegen der Mitarbeiterüberwachung angefragt hatte. Ich habe den Auftrag, sagte mir der Personalchef. Ich müsse mich gleich an die Arbeit machen. Die schriftliche Bestätigung bekäme ich vorab per Fax. Dann solle ich umgehend eine Auftragsbestätigung senden. Ich täuschte wegen der plötzlichen Beauftragung noch diverse Schwierigkeiten vor, versicherte aber, mich dennoch sofort an die Überwachung des Mitarbeiters zu machen. Eigentlich hatte ich vor, dem Modedesign-Unternehmen vormittags einen Besuch abzustatten, aber möglicherweise würde die Sache durch Thorstens Anruf ohnehin bald erledigt sein. Mit dem Beauftragungsfax kamen auch noch die notwendigen Personalunterlagen samt Mitarbeiterfoto. Der Mann war Mitte vierzig und führte seit etwa einem Jahr die Krankenstatistik wegen sich wiederholender Bandscheibenvorfälle an. Heute hatte er aus diesem Grund wieder eine Tour absagen müssen und war zu Hause geblieben. Sein Vorgesetzter hatte ihm wegen seiner angeblichen Beschwerden in den letzten Monaten nur noch Fahrten in die nähere Umgebung zugemutet. Das Misstrauen gegenüber dem Mitarbeiter war darin begründet, dass ein Kollege ihn am Wochenende beim Fußballspiel in der Altherrenmannschaft gesehen hatte. Ein klassischer Fall der Vertragsverletzung im Krankenstand. Ich faxte noch schnell die Auftragsbestätigung und nahm dann meine Digitalkamera zusammen mit dem großen Objektiv aus der Schublade. Die Kamera hatte ich erst vor zwei Wochen günstig bei eBay ersteigert. Wenige Minuten später saß ich in meinem vollgetankten Cinquecento und fuhr ans andere Ende von Hamburg, wo der vermeintlich betrügerische Lastkraftwagenfahrer wohnte. In der Nacht hatte es zwar keinen Frost gegeben, dennoch zeigte die Anzeige in meinem Cockpit gerade einmal sechs Grad Außentemperatur an. Große Kumuluswolken zogen wie dicke Wattebäusche am Himmel entlang. Eine halbe Stunde später befand ich mich in einer netten kleinen Siedlung mit meist liebevoll renovierten, freistehenden Einfamilienhäusern aus den Fünfzigerjahren. Eine deutsche Wohnidylle mit alten Bäumen und großzügig geschnittenen öffentlichen Rasenflächen. Sogar Parkbänke hatte die Stadt aufgestellt. Die einzelnen Grundstücke waren sehr groß, wahrscheinlich über tausend Quadratmeter. Die Häuser standen noch wirklich frei und nicht wie heute üblich, dicht gedrängt. Ich hielt schräg gegenüber des Hauses, das ich observieren wollte. In der breiten Einfahrt stand ein Opel Astra. Wenn der Wagen nicht seiner Frau gehörte, musste er eigentlich zu Hause sein, schlussfolgerte ich. Meine hübsche Kamera lag auf dem Beifahrersitz. Ich nahm sie mir und machte die erste Aufnahme von dem Haus und dem Auto. Einige Häuser weiter waren drei Männer damit beschäftigt, Vorgarten und Einfahrt neu zu pflastern. Wahrscheinlich unter der Hand, da weit und breit kein Firmenfahrzeug zu sehen war. Eine junge Frau mit Kinderwagen ging vorbei. Ich ließ die Kamera in meinen Schoß sinken und lächelte die junge Mutter an. Sie tat so, als hätte sie mich nicht gesehen und ging weiter. Mein Auftraggeber hatte mir versichert, der Mitarbeiter müsse vom ersten Krankheitstag an einen gelben Schein vorweisen. Das bedeutete also, er musste das Haus noch verlassen, um zum Arzt zu fahren, es sei denn, er hätte es bereits ganz frühmorgens erledigt. Es war mittlerweile kurz vor zehn. Geduldig lehnte ich mich in meinem Autositz zurück. Ein großer Winkelschleifer fraß sich laut kreischend durch Pflastersteine. Staubwolken wurden vom schwachen Wind durch die ansonsten ruhige Wohnstraße getragen. Ich schaltete das Autoradio ein. Da ich nicht hören wollte, dass meine Schwächen auch Stärken seien, suchte ich mir einen anderen Sender. Bei einem aktuellen Song von Bruno Mars beendete ich den Suchlauf und hoffte auf ein paar gute Stücke bis zum nächsten deutschsprachigen Quotenlied über das problembeladene Leben unserer Großstadtkinder. Da es allmählich stickig im Auto wurde, ließ ich die Fensterscheibe herunter. Das laute Kreischen des Winkelschleifers verstummte. Es war genau zehn Uhr. Zeit für eine Frühstückspause. Leider hatte ich weder etwas zu trinken noch etwas zu essen bei mir. Unprofessionell, dachte ich. Während zwei der Männer aus meinem Blickfeld verschwanden und es sich vermutlich im Garten des Hauses bequem machten, ging der dritte Mann die Straße hinauf in meine Richtung. Er warf einen flüchtigen Blick zu mir herüber und bog dann in die Einfahrt des Hauses, das ich seit einer knappen halben Stunde observierte. Jetzt erst erkannte ich ihn. Er öffnete die Haustür und ging hinein. Ich griff gar nicht erst zu meiner Kamera. Die Fotos von dem Mann in seiner eigenen Einfahrt wären wertlos gewesen. Allenfalls die verstaubte Arbeitskleidung hätte einen Hinweis auf die Untreue zu seinem Arbeitgeber geben können. Doch darauf wollte ich mich selbstverständlich nicht verlassen. Ich startete den Motor und lenkte den Wagen auf die Straße. Ein alter Mann hinter einer quaderförmig geschnittenen Ligusterhecke beobachtete mich dabei aufmerksam. Wahrscheinlich war ich als Fremdkörper in dieser beschaulichen Wohnsiedlung längst aufgefallen. Ich fuhr langsam an dem Haus mit der etwa zur Hälfte fertiggepflasterten Einfahrt vorbei. Die beiden anderen Männer saßen kauend in der leeren Garage. Beide hielten sie ein belegtes Brot in der Hand. Ich sah nur kurz hin und fuhr weiter. Nachdem etwa zehn Minuten vergangen waren und ich zweimal um den Block gefahren war, bog ich wieder in die Wohnstraße ein. Dieses Mal wartete ich gleich vornean, praktisch außer Sichtweite auf meinen Einsatz. Als ich davon überzeugt war, dass die Frühstücksrunde beendet war, fuhr ich wieder los. Ich parkte erneut auf der gegenüberliegenden Straßenseite, aber viel dichter an der Baustelle dran. Von hier aus konnte ich den Männern bei ihren Pflasterarbeiten sehr gut zusehen. Sie waren tatsächlich alle drei wieder bei der Arbeit. Mein Mann hockte am Boden und setzte Pflastersteine in den glattgezogenen schwarzgrauen Rollsplitt. Ich blieb unbemerkt und brachte unauffällig die Kamera in Position. Leider kehrte mir die zu observierende Person den Rücken zu. Das Ergebnis einer Bildaufnahme wäre nur sein formvollendetes Maurerdekollté gewesen. Der Mann war im Übrigen gut gebaut und nichts in seinen Bewegungen erinnerte an sein Rückenleiden. Wenige Minuten später brachte er sich dann in eine hervorragende Pose. Wie Turnvater Jahn, stand er breitbeinig mit geneigtem Oberkörper in der Einfahrt des Hauses. Seine kräftigen, stark behaarten Arme baumelten lang vor ihm herunter. Mit den Händen griff er nach den Pflastersteinen, die aufgehäuft zu seinen Füßen lagen, und warf sie der Reihe nach einige Meter weiter zur Seite, wo sie später gebraucht wurden. Mir tat schon vom Hinsehen der Rücken weh. Bei dieser Übung hatte ich sein Gesicht in meinem Sucher. Ich knipste, was das Zeug hielt, und machte auch kurze Videoaufnahmen. Als ich alles im Kasten hatte, überprüfte ich am Display der Kamera, ob das Datum korrekt eingestellt war. Alles war in bester Ordnung. Unter jedem der Fotos, die ich gemacht hatte, wurde das Datum und die Uhrzeit angezeigt. Während ich mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen mit meiner Kamera beschäftigt war, hatte ich leider nicht bemerkt, dass einer der Männer auf mich aufmerksam geworden war. Ich sah erst wieder hin, als dieser Mann die anderen beiden anstieß und mit dem Kinn auf mein Auto zeigte. Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Ich startete den Motor, doch bedauerlicherweise war es mir unmöglich davonzufahren, ohne einen der Männer über den Haufen zu fahren. Ehe ich mich versah, wurde die Fahrertür geöffnet und zwei kräftige Arme halfen mir dabei, auszusteigen. Der Mann, von dem ich so wunderbare Aufnahmen gemacht hatte, hatte offenbar sehr gute Augen und entdeckte sofort den Ausdruck mit dem Firmenlogo seines Arbeitgebers auf dem Beifahrersitz. Dummerweise hatte ich ihn dort liegen gelassen.

      »Ein dreckiger Schnüffler, den meine Firma geschickt hat«, klärte er seine Arbeitskollegen vom Bau auf. Einer der beiden anderen Männer nahm mir die Digitalkamera aus der Hand. Er entfernte fachkundig die Speicherkarte und steckte sie in seine Hosentasche. Ich wurde wütend und verschaffte mir etwas Bewegungsfreiheit, indem ich den Mann etwas wegschubste. Eine Faust traf meinen Kopf. Mindestens einer der harten Knöchel erwischte dabei auch meine Narbe über der Augenbraue. Der dritte Mann schubste mich zurück auf den Fahrersitz. Meine Kamera landete unsanft in meinem Schoss. Ich zuckte mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Aus meiner Narbe ran etwas Blut und lief seitlich an meinem Auge vorbei.

      »Abmarsch. Auftrag beendet und lass dich in dieser Straße nie wieder blicken, sonst geht es das nächste Mal nicht so glimpflich für dich aus«, herrschte mich der Speditionsmitarbeiter an. Gleich darauf knallte er die Fahrertür zu. Ich hatte tatsächlich die Schnauze voll und fuhr davon.

      8

      Zwei Straßen weiter hielt ich an. Ich begutachtete meine Visage im Spiegel der Sonnenblende. Die Narbe war geschwollen, blutete aber nicht mehr. Unter meinem rechten Auge waren die ersten Verfärbungen zu erkennen, die später zum Veilchen ausreifen sollten. Das Blut, das mir an der Wange entlang gelaufen war, war noch nicht ganz trocken. Ich wischte es mit einem Taschentuch ab. Ich fühlte mich gedemütigt. Am