Es hatte endlich aufgehört zu regnen, doch die Luft war noch immer nasskalt. Es war Viertel vor drei. Wenigstens blieb es draußen lange hell, wenn schon nichts vom nahenden Sommer zu spüren war. Ich fuhr mit meinem kleinen Cinquecento zurück zum Büro. Bitte tanken leuchtete im Display auf, als ich einparkte. Geld hätte ich für eine Tankladung gehabt, doch keine Lust, mich jetzt damit aufzuhalten. Ich schloss den Wagen ab und ging hinauf in mein Büro. An meinem Schreibtisch sitzend, goss ich mir Kaffee aus der Thermoskanne ein und checkte dann die E-Mails. Der Kaffee war lauwarm und schmeckte bitter. Ich hatte keine neuen Nachrichten und auch keine entgangenen Anrufe. Vielleicht sollte ich für mehrere Wochen eine Anzeige in der Samstags-Ausgabe einer Zeitung schalten, dachte ich. Aber erst musste Sascha gefunden werden, wobei ich allerdings davon ausging, dass er höchstwahrscheinlich ganz von selbst wieder auftauchen würde. Ich beschloss, in meine Wohnung zu fahren und später von dort bei Frau Kessler anzurufen, um wie vereinbart, die ersten Ergebnisse meiner Ermittlungen mitzuteilen. Saschas Kladde ließ ich liegen und nahm nur den Schnellhefter mit. Als ich in den Fiat stieg, zeigte sich tatsächlich die Sonne am bewölkten Himmel, bis sich einige Sekunden später eine dicke Wolke davor schob. In der Straße, in der ich wohne, gibt es eine nette Szenekneipe. Am Wochenende kann man hier bis spät in den Nachmittag hinein frühstücken. Sie hatte bereits geöffnet und so ging ich auf ein verdientes Feierabendbier hinein. Ich war der erste Gast und die Bedienung begrüßte mich freundlich. Sie war gerade dabei, die Reservierungsschildchen auf die Tische zu stellen. Ich setzte mich an die Theke und bestellte bei ihr eine Minute später ein großes Astra. In der Küche wurden die Aufläufe vorbereitet, für die die Kneipe berühmt ist. Es roch nach frisch geschnittenen Zwiebeln. Ein älterer Mann mit ungepflegtem Vollbart und langen friedhofsblonden Haaren trat ein. Nicht nur seine Haare waren grau, sondern auch sein müdes Gesicht. Er nahm schwerfällig an einem der Tische vor den Fenstern Platz und schlug die taz auf, die er sich selbst mitgebracht hatte. Abends war die Kneipe gewöhnlich voll mit Pädagogen, Altachtundsechzigern und Studenten mit AStA-Karriere. Ich nahm einen langen Schluck von meinem Bier. Jetzt, wo der erste Auftrag Geld in die Kasse gespült hatte, sollte ich vielleicht später wiederkommen und mir einen Zucchini-Auflauf gönnen, überlegte ich. Zwei neue Gäste kamen herein. Dieses Mal zwei Männer mittleren Alters, schick im Anzug und modischer Krawatte. Ich trank aus und bezahlte. Draußen hatte ich das Gefühl, dass es einen Hauch milder geworden war. Vielleicht lohnte sich ein Blick auf die Wettervorhersage. Ich schloss die Eingangstür auf. Meine Wohnung liegt im dritten Stock. Ich liebe das alte Haus mit seinen sechs Parteien. Alles unkomplizierte Mitbewohner, vom Rentnerehepaar, dem Ingenieur bis hin zur Krankenschwester. Wo gibt es noch so etwas. Der Hausbesitzer lässt sich selten blicken und stellt keine Regeln auf, die ohnehin niemand einhalten würde. Ich nahm aus meinem verbeulten Blechbriefkasten die Tageszeitung heraus, für die ich am Morgen keine Zeit gefunden hatte und taperte die mit rotem Teppich bespannte Treppe hinauf. Unter meinen Füßen knarrte das alte Eichenholz bei jedem meiner Schritte. Ein herrliches Geräusch.
Um Punkt achtzehn Uhr griff ich zum Hörer meines schnurlosen Telefons. Während die Verbindung aufgebaut wurde, sah ich aus dem Fenster. Einer der beiden Schlipsträger stand vor der Kneipe und rauchte. Frau Kessler ging nach dem sechsten Klingelton ran.
»Terhagen hier«, meldete ich mich wichtig.
»Haben Sie schon etwas in Erfahrung bringen können?«, fragte sie mich.
»Noch nicht viel, aber ich habe einen Hinweis gefunden, der dafür spricht, dass Ihr Sohn lediglich verreist ist. Aber der Reihe nach.« Am anderen Ende der Leitung herrschte gebannte Stille. Da ich überlegte, wie ich beginnen sollte, entstand eine kurze Pause.
»Nun schießen Sie schon los«, sagte Frau Kessler ungeduldig.
»Also, ich war im Studentenwohnheim und habe mir sein Zimmer angesehen. Auf dem Schreibtisch lagen Bons. Ihr Sohn hat sich vor etwa dreieinhalb Wochen zwei Badeshorts und ein Handtuch gekauft. Wissen Sie, ober er gerne Schwimmen geht?«
»Ich weiß nur, dass er Hallenbäder hasst. Wenn er schwimmen geht, dann im Sommer draußen.«
»Da hier in Hamburg dieses Jahr an baden unter freiem Himmel bisher nicht zu denken war, nehme ich an, dass er sich die Sachen für eine Reise in den Süden zugelegt hat.«
»Aber sein Kleiderschrank ist noch fast voll«, hielt sie dagegen.
»Das muss nicht unbedingt etwas bedeuten. Vielleicht wollte er nur einige Tage bleiben und hat es sich dann anders überlegt.« Ich hörte ein ungläubiges Mhm. »Übrigens war sein Zimmer nicht abgeschlossen. Kann es sein, dass Sie heute Morgen vergessen haben, es wieder abzuschließen?«
»Ausgeschlossen«, sagte sie entschieden.
Ich glaubte ihr und fragte weiter. »Hat Sascha ein Notebook?«
»Soweit ich weiß, ja, aber heute Morgen habe ich keins gesehen.«
»Ich auch nicht. Übrigens habe ich weder Führerschein, Personalausweis noch Reisepass gefunden. Das spricht ebenfalls dafür, das er weggefahren ist.«
»Mag sein, aber trotzdem weiß ich nicht, wo er ist.«
»Gut, das werde ich schon noch herausfinden. Hat Ihr Sohn ein Auto?«
»Nein, in Hamburg bräuchte er kein Auto, hat er mir gesagt.« Es klang fast wie eine Entschuldigung, dass sie ihm kein Auto gekauft hatte.
»Kennen Sie einen Mitbewohner von Sascha mit dem Namen Thomas?«
»Nein, wieso?«
»Weil der behauptet, Sascha würde ihm noch Geld schulden.«
»Wenn er recht damit hat, dann geben Sie ihm bitte das Geld, das Sascha ihm noch schuldet. Viel kann es ja nicht sein.«
»Selbstverständlich«, antwortete ich und um Frau Kessler nicht weiter zu beunruhigen, erzählte ich ihr nichts von meinem Verdacht, dass dieser Thomas vermutlich Drogen nahm. Es entstand eine kurze Pause, bis mir wieder einfiel, was ich Frau Kessler noch fragen wollte. »Haben Sie sein Zimmer so gut aufgeräumt, ich meine das Bett gemacht und so weiter.«
»Nein, Sascha ist sehr ordentlich. Das hat er von seinem Vater. Mir geht dieser Ordnungsfimmel manchmal auf die Nerven.«
Nachdem ich ihr von meinen Plänen erzählt hatte, mich am nächsten Tag in seinem Studiengang ein wenig umzuhören und auch zu versuchen, an die Passagierlisten des Hamburger Flughafens zu gelangen, verabschiedeten wir uns. Ich schien sie nur wenig, wenn überhaupt, beruhigt zu haben. Für den nächsten Tag um die gleiche Zeit kündigte ich meinen nächsten Rapport an.
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