Alles fließt. Nicole Garos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Garos
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738015997
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um diese Uhrzeit nie die Ruhe für einen Kaffee hast und mich auch nie bei meinem Morgenspaziergang begleitest, setzt Dich zu mir.

      “ Was bewegt Dich?”, fragst Du mich auch gleich ganz direkt - und ich beginne zu erzählen. Ich erzähle Dir von der seltsamen Begegnung in Nafplion, die mich zu den unterschiedlichsten Spekulationen verleitet.

      Du sitzt da und schaust mich ernst an: “Ja, diese Frau solltest Du einmal aufsuchen.”, bekräftigst Du mich in meiner fixen Idee. Und es ist, als öffnetest Du damit all die Tore meiner Gedanken und Erinnerungen, die mir seit den letzten Tagen durch den Kopf gehen. Gedanken werden zu Worten und entschlüpfen meinem Mund. Ich beginne zu erzählen, von Anfang an, vom Beginn meines Erinnerns. Mit konzentriertem Blick hörst Du zu und unterbrichst mich nicht – nur wenn ich stocke, fragst Du nach. Und als ich Dir schließlich all meine Kindheitserinnerungen wiedergegeben habe, bist Du noch nicht müde geworden. Du forderst mich stattdessen auf fortzufahren und weiterzuerzählen.

      Mein Name ist Doreen

      Ich war schon von klein auf ein sehr “widerborstiges” Kind, wie mir immer gesagt wurde - und je älter ich wurde, um so eigensinniger wurde ich und lernte, das Leben zu nehmen wie es kam und mich durchzuschlagen.

      In der Schule, einem Jungengymnasium, wurde ich von meinen Mitschülern und auch von meinen Lehrern respektiert, obwohl ich das einzige Mädchen in der Klasse war, eine Beinschiene tragen musste und humpelte und trotz, dass ich sehr zierlich war.

      Ich war ein aufmüpfiges, neugieriges und selbstbewusstes Mädchen. Und ich war eine sehr gute Schülerin und liebte die Schule, wobei meine Glanzleistungen meinem Fleiß, vor allem aber meiner Neugier und meiner Wissbegier zu verdanken waren. Durch meine Verletzungen konnte ich keinen Sport treiben, über viele Jahre nicht schwimmen; so verbrachte ich meine gesamte freie Zeit mit Lesen, wobei schon damals mein Motto war: “Alles was gedruckt ist, ist für mich gedruckt.”

      Gleichzeitig hatte ich einen eigenen, manchmal sehr störrischen Kopf. Deshalb wäre ich zweimal fast von der Schule geflogen. Einmal hatte ich eigenwillig für mich entschieden, den gängigen Kleidungsstil für Mädchen abzulegen. Ich schnitt mir die langen Zöpfe ab - und statt des erwarteten Rockes trug ich Jeans und T-Shirt, welche mir meine amerikanische Freundin Judy vermacht hatte. Die Lehrer nahmen meinen Aufzug mit hochgezogenen Augenbrauen hin, doch in der Pause kam es schließlich mit einem Jungen aus der Parallelklasse, der mich hänselte, zur Rangelei.

      Wir wurden beide zum Direktor gerufen und ein Verweis von der Schule stand zur Debatte. Am nächsten Tag sollte das gesamte Lehrerkollegium darüber abstimmen. Wir warteten nervös vor der Tür auf das Ergebnis der Abstimmung. Durch die Tür hörte ich meinen Klassenlehrer argumentieren: “Wenn sich unsere Schule erlauben kann, die Schulbeste zu schmeißen, wo kommen wir da hin?“

      So kam ich schließlich mit einer schriftlichen Verwarnung und einem Brief an die ‘Eltern’ davon.

      Die zweite Abmahnung war weniger dramatisch. Der in der Nachkriegszeit aufkommende Traum eines vereinten Europas begeisterte auch mich - und ich äußerte diese Meinung durch den erworbenen grün-weißen EU-Wimpel, den ich stolz vorne an meinem Fahrrad befestigte und es so auf dem Schulhof abstellte. Da es zu dieser Zeit verboten war, Politisches im Rahmen der Schule zu äußern, wurde ich verwarnt. Ich wurde aufgefordert, den Wimpel zu entfernen, sonst hätte es schwerwiegende Konsequenzen für mich. Ich entschied mich natürlich für die Entfernung des Wimpels. Die Möglichkeit des Schulbesuchs war mir heilig.

      Leider musste ich nach dem Tod meiner Großmutter das humanistische Gymnasium verlassen, da meine Schulgebühren unbezahlt blieben. Die Bemühungen meines Klassenlehrers um ein Stipendium für mich führten ins Leere, und ich musste von nun an eine einfache Volksschule besuchen, um meine Schulpflicht abzusitzen.

      Was mir blieb

      So stand ich im Leben vollkommen alleine da, und ich fühlte mich sehr verloren. Doch in den letzten Jahren und im Leben zwischen den für mich gegensätzlichen Welten meiner Mutter und meiner Großmutter hatte ich viel gelernt. Insbesondere die Weisungen meiner Großmutter haben bis heute lebenswichtige Bedeutung für mich. Sie entstammen tieferem Ursprung – wobei ich sie im Rahmen einer weitreichenden Familientradition einordne und insbesondere mit dem Judentum verbinde, mit dem ich mich durch die Erziehung meiner Großmutter identifiziere.

      Geht man den Spuren meiner Ahnen nach, reichen diese bis nach England zurück, dann nach Spanien und schließlich nach Deutschland. Der Großvater meiner Großmutter, ein Jude, war von Spanien nach Deutschland emigriert. Sein Sohn, mein Urgroßvater, hatte sich schließlich taufen lassen, um seine Frau, eine Katholikin, heiraten zu können. Doch seine Frau, die ihn, den Erzählungen meiner Großmutter nach, sehr liebte, lebte für ihn innerhalb der Familie die Traditionen des Judentums weiter, und die beiden erzogen auch ihre Kinder nach den Leitregeln des Judentums. So kam es, dass meine Großmutter zwar selbst altkatholisch getauft war, im Alltag aber streng jüdischen Wertsätzen folgte. An den hohen katholischen Festtagen ging sie dann zwar, wie es sich gehörte, in die Kirche. Aber einmal sagte sie zu mir: “Sie können mir äußerlich draufschreiben, was sie wollen, innerlich fühle ich mich als Jüdin.”

      Nach dem Krieg gab meine Großmutter auch mir die Lebensregeln weiter, die sie mit dem Judentum verband. Meine Großmutter war nicht nur die, die mir den Glauben an das Gute im Menschen mitgab, den Glauben an die Würde jedes einzelnen von uns. Sie war es auch, die immer auf die Treue zu sich selbst bestand und keine Lüge duldete. Sie war diejenige, die mir beibrachte, mit den einfachsten Dingen zufrieden zu sein und lehrte mich die Wichtigkeit der Bildung, die sie mir zu ermöglichen versuchte. Gemeinsam lasen wir das Alte Testament und die Tora, und auch die jüdischen Festtage hatte meine Großmutter im Rahmen des möglichen mit mir gefeiert, so das jüdische Neujahr und das Laubhüttenfest.

      Auch im alltäglichen Leben gab sie mir viele konkrete Regeln mit, die mir das Überleben im Chaos meiner frühen Jahre vereinfachten. Es handelte sich um einfache Essvorschriften und Vorschriften der Sauberkeit. Ich habe nie einer jüdischen Gemeinde angehört, nie eine Synagoge besucht, erst Jahre später habe ich mich detailierter mit dieser Religion beschäftigt – und dennoch fühle und bezeichne ich mich als Jüdin.

      Meine Lehr- und Wanderjahre

      Nur wenige Tage nach dem Tod meiner Großmutter stand 'das Jugendamt' vor unserer Wohnung in der Heidelberger Vorstadt, in der in diesen schwierigen Tagen eine Bekannte meiner Großmutter für mich da war. Die Angestellten des Jugendamtes nahmen mich mit und brachten mich in ein Heim für junge Mädchen. Die Zeit in diesem Jugendheim, es mögen zwei, drei Monate gewesen sein, erinnerte mich an die Zeit in dem Zimmer mit meiner Mutter. Die Mädchen, alle aus schwierigen Verhältnissen, büchsten so gut wie jede Nacht aus unseren Räumen aus und kamen erst in den frühen Morgenstunden zurück. Mit sich brachten sie den mir so vertrauten, aber auch vor Ekel zum Erschauern bringenden Geruch nach Zigaretten, Alkohol, nackter Haut. Ein täglich von mir ersehnter Gegenpol war die Stunde vor dem Abendessen, in der wir gemeinsam mit den evangelischen Schwestern sangen und beteten.

      Und dennoch mag ich mich insgesamt über diese Zeit nicht beschweren, war ich doch sowohl von den Mädchen als auch vom Personal des Heims als 'Spatz' angenommen.

      Das Jugendamt bestimmte dann aber ein zweites Mal meinen kommenden Lebensweg. Eine ältere wohlhabende Dame, die selbst schon drei erwachsene Söhne hatte, wollte gerne ein junges Mädchen bei sich aufnehmen. Die Mitarbeiter des Jugendamts wählten mich aus, und Frau Schmidt und ihre Freundin Frau Hummel waren gut zu mir. Die beiden eröffneten mir eine Welt, die ich bisher nicht gekannt hatte, die ich mir aber immer erträumt hatte – eine Welt, die mir meine Großmutter als die Wirklichkeit beschrieben und in derem Sinne sie mich erzogen hatte. So fand ich mich leicht in dieser für mich ‘gehobenen Gesellschaft’ ein, kannte deren Manieren.

      Frau Schmidt hatte eine schöne Wohnung, in der ich ein eigenes Zimmer bekam. Der Haushalt wurde durch eine Haushälterin erledigt. Frau Schmidt behandelte mich immer freundlich und herzlich und sie verwöhnte mich nach Strich