Alles fließt. Nicole Garos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Garos
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738015997
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an.

      "Ich bin nicht Frau Irina, da verwechseln Sie mich wohl.”

      Etwas verstört sagt die Frau halb zu mir, halb zu dem jungen Mann gewandt: “Ich hätte schwören können, dass Sie Frau Irina sind.”

      Der junge Mann betrachtete mich genau. “Ja, auch ich hätte Sie mit aller Bestimmtheit für Frau Irina gehalten”.

      “Wer ist diese Frau?“, frage ich, neugierig geworden.

      “Sie ist eine sehr nette Deutsche, die vor vielen Jahren in unser kleines Dorf Didima eingeheiratet hat. Sind Sie Deutsche und haben Sie vielleicht eine Schwester?”

      “Nein”, schmunzle ich, “ich bin zwar Deutsche, lebe in Ermioni, doch in Didima kenne ich niemanden.”

      Es entwickelt sich ein kurzer, netter Plausch zwischen uns, wobei mich die beiden immer wieder intensiv anschauen, als könnten sie nicht glauben, dass ihnen nicht Frau Irina gegenüber steht.

      „Kommen Sie doch mal in unser Dorf und besuchen Sie uns!“, verabschieden sie sich schließlich. Unsere Begegnung geht mir die ganze und auch die folgende Woche nicht mehr aus dem Kopf: “Wer ist diese Frau?”Ich beschließe, der Frage nachzugehen.

      Kindheitserinnerungen

      

      Mein Name ist Dorothea, oder auch Doreen oder auch … Ich bin 1936 in Heidelberg geboren. Meine Eltern hatten jüdische Vorfahren, waren aber beide christlich getauft. Ich selbst hätte das Alter von vier Jahren beinahe nicht überlebt. Doch ich hatte Glück. Nur schemenhaft und mit Unterbrechungen kann ich mich an diese ersten Jahre meines Lebens erinnern. Ich erinnere mich daran, dass ich gerne Bilderbücher ansah. Ich erinnere mich auch daran, dass mein Vater eines Nachts plötzlich verschwunden war, bald darauf auch meine Mutter. Ich sehe mich selbst in dieser Zeit in einem Waisenhaus. Ein einziger Satz meiner Mutter aus diesen Jahren hat sich mir bis heute eingeprägt: “Fahre nie mit fremden Menschen mit!”

      Dieser Satz war es, der mein Leben zunächst in Gefahr bringen sollte, es mir zu guter Letzt aber rettete. Eines Abends kamen die Soldaten in unser Waisenhaus. Wir Kinder tranken gerade Kakao und einige von uns hatten ganz schokoladenverschmierte Münder. Die Soldaten schlugen, schubsten und traten, sowohl die Betreuerinnen als auch uns Kinder. Und dann, mitten in der Nacht, wurden wir auf einen großen Lastwagen geladen. Ich, ein kleines zierliches Mädchen, saß rechts außen am hinteren Ende des Lasters und erinnerte mich an die Worte meiner Mutter: “Fahre nie mit einem Fremden mit!”

      Als der Wagen losfuhr, ließ ich mich deshalb seitlich herunterfallen. Ich landete unsanft neben dem Bordstein. Dann hörte ich, wie der Wagen stoppte und schwere Schritte auf mich zukamen. Ich sah einen großen schwarzen Stiefel mit Nägeln vor meinem Gesicht und hörte gleichzeitig eine Männerstimme im badischen Dialekt rufen: “Lass gut sein, die Grott ist doch eh schon tot.”

      Als ich wieder aufwachte, saß ich im Zug. Im Arm hielt mich eine ältere Frau, die mir liebevoll die Wangen streichelte. Mein Gesicht, mein Kopf, meine Glieder, ja mein ganzer Körper war verbunden oder in Gips gelegt. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper. Die alte Frau neben mir brachte mich an einen mir fremden Ort; wie ich im Nachhinein erfuhr, war es das kleine Städtchen Markolsheim im heutigen Elsass-Lothringen. Eine nette russische Ärztin nahm mich in ihre Obhut und behandelte meine Wunden. Ich konnte bleiben und fand mich wieder mit vielen anderen Kindern und Erwachsenen an diesem sicheren Ort. Ein alter Mann, der deutsch und französisch sprach, vermutlich ein Elsässer, erzählte mir in deutscher Sprache Geschichten und brachte mir das Lesen bei. Die Menschen, die Welt waren plötzlich wieder gut zu mir. Mit vielen anderen Kindern war ich in gepflegten Baracken mit Schlafräumen untergebracht, verletzte und nicht verletzte Kinder, zum Teil auch körperlich und geistig behinderte Kinder. In einer Baracke in der Nähe unserer Schlafräume gab es Toiletten und Duschen. Wir wurden gut versorgt, bekamen regelmäßig zu essen und konnten, soweit es uns möglich war, rund um die Baracken spielen. Ab und an gingen wir auch mit einer unserer drei Betreuerinnen in der Nähe an einem kleinen Fluss spazieren. Nicht weit von unserer Anlage war ein Lazarett, in dem verletzte Soldaten behandelt wurden. Diejenigen, denen es schon etwas besser ging, verrichteten kleinere und größere Aufgaben auf unserem Gelände. Ein Name ist mir seit dieser Zeit fest in meinem Gedächtnis eingebrannt. Es ist der des Offiziers Peter Großkreuz. Schon damals als Kind fühlte ich, dass dieser Mann uns auf irgendeine Art und Weise half und uns schützte – ob er dies offiziell oder inoffiziell tat, ich weiß es nicht. Ich kann mich nur daran erinnern, dass in regelmäßigen Abständen eine Kolonne von Lastwagen bei uns auf dem Gelände vorfuhr, die mit Lebensmitteln und anderen zum Leben notwendigen Dingen beladen waren. Der Erste, der beim Eintreffen der Lastwagen ausstieg, war grundsätzlich Offizier Peter Großkreuz. Und er war es auch, der schließlich bei unserer Abreise von diesem unseren sicheren Zufluchtsort mit dabei war.

      Wir - viele, viele Kinder, jedes von uns in eine Decke gehüllt - und unsere drei geliebten Betreuerinnen wurden an einem kalten Tag auf zwei Lastwagen geladen. Wir gingen auf eine lange, nicht enden wollende Reise. Eines späten Nachmittags überquerten wir eine Brücke. Nur kurz nachdem der zweite LKW diese überquert hatte, beobachteten wir entsetzt, wie diese in die Luft flog. Verängstigt drängten wir uns noch enger aneinander. Über Wochen waren wir unterwegs. Immer wieder mussten wir warten, mal aufgrund von Straßensperren, mal wegen Tieffliegern. Wir hungerten und froren und warteten. Doch dann, irgendwann, fuhren wir auf ein großes Haus mitten im Wald zu, auf dem ‘Ferienheim’ stand. Hier durften wir aussteigen. Inzwischen weiß ich, dass die Brücke, die damals hinter uns explodierte, die Rheinbrücke war und das ‘Ferienheim’ im Badischen lag. Dort hielten die Lastwagen, uns wurde heruntergeholfen und wir wurden in das große Gebäude gelotst. Uns wurde Brot und heißer Kakao serviert. Dann legten wir uns, erschöpft und müde, doch gesättigt mit unseren dreckigen Kleidern in unsere warmen Federbetten. Am kommenden Morgen wurden wir das erste Mal nach Wochen gebadet und uns wurden die verlausten Haare geschoren – es war ein kleines Wunder. Wir planschten, sangen und jauchzten, immer zwei in einer Wanne.

      In diesem Heim ging es uns Kindern wieder gut. Wir bekamen regelmäßig zu essen und alles war friedlich. Bald bekamen wir auch Schulunterricht. Unser Gebäude durften wir aber nur selten verlassen und wenn, war es uns nur für kurze Zeit erlaubt in eine bestimmte Richtung spazieren zu gehen, wobei wir uns leise verhalten mussten. Es kam mir so vor, als ob wir versteckt, geheim, unter dem Schutz einer unbekannten Person standen.

      Nur wenige Tage nach unserer Ankunft kam eine Frau ins Heim und stellte sich als meine Mutter vor. Ich sah sie skeptisch an. Woher sie wusste, dass ich hier war, ich weiß es bis heute nicht. Sie brachte Kleidung mit, die sie aus alter Militärbettwäsche für uns Kinder genäht hatte. Und sie blieb als Hilfskraft für ein, zwei Wochen mit im Heim und half dort im Haushalt mit. Als meine Mutter habe ich sie aber nicht wirklich wahrgenommen; ich blieb ihr gegenüber distanziert und konnte keine nahe Beziehung zu ihr aufbauen, was auch daran lag, dass auch sie nicht wirklich den direkten Kontakt zu mir suchte. Sie war für mich wie eine der anderen Haushälterinnen des Heims.

      Eines Tages zwischen Weihnachten und Neujahr wies uns unsere Hausmutter Madam Maria darauf hin, dass Frau Lisa, wie man meine Mutter nannte, uns wieder verließ. An einer Hintertür des Hauses verabschiedete sie sich von mir und ging hinaus ins Schneetreiben, wo sie nicht weit entfernt von einem bereits wartenden Mann abgeholt wurde. Noch an der Tür schenkte sie mir ein blaues Halstuch mit roten Mohnblumen. Doch ich mochte es nicht, es roch so seltsam.

      Meine Mutter kam lange nicht wieder. Einmal kurz tauchte sie erneut auf und schenkte mir einen kleinen roten Ring mit einem goldenen Stein, dann verschwand sie wieder.

      Irgendwann, an einem warmen Frühlingstag kamen eine ganze Reihe LKWs vorgefahren, Soldaten stiegen aus und kamen zu uns ins Heim. Die fremden Männer und Frauen in Uniform machten uns Kindern Angst. Unsere Betreuerinnen erklärten uns aber, dass nun der Krieg zu Ende sei und wir uns nicht mehr fürchten müssten.

      Einer der Soldaten sprach Deutsch, alle anderen eine andere Sprache. Doch ich verstand sie. Diese Sprache war mir vertraut. Das war ein seltsamer, eigenartiger Moment für mich. Und ich verstand diese Fremden nicht nur, ich