Alles fließt. Nicole Garos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Garos
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738015997
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wurde eine Operation an meiner Nase und eine an meinem verkürzten Bein vorgenommen. Ich bekam von nun an eine Schiene. Parallel zu diesen Behandlungen organisierte meine Großmutter eine Ballettlehrerin, die sich bereit erklärte, mir kostenlos durch wöchentliches, hartes Training zu helfen, dass ich die notwendige Stütze irgendwann ganz los sein konnte. So kam es auch.

      Nach meinem Krankenhausaufenthalt hatte meine Großmutter dafür gesorgt, dass ich die Grundschule abschließen konnte und schließlich auf ihre Kosten das humanistische Gymnasium besuchen durfte. Das war ein großes Geschenk für mich und rettete mich in der Zeit nach meinem Krankenhausaufenthalt, als ich wieder bei meiner Mutter lebte. Was mich in dieser Zeit rettete, waren die Bücher, die ich heimlich unter der Bettdecke oder versteckt in der Hundehütte neben meinem geliebtem Schäferhund im Hinterhof las. Was mich in dieser Zeit rettete, waren zu guter Letzt die Nachmittage, an denen ich meine Großmutter besuchen konnte, wobei ich 10 km zu Fuß auf mich nehmen musste, um zu ihrer kleinen Wohnung in dem Heidelberger Vorort Neckargemünd zu gelangen. Dort pflückten wir gemeinsam Blumen oder meine Großmutter lehrte mich das Nähen an der Nähmaschine, und oft gab sie mir auch ein bisschen Geld mit, damit ich mir in der Leihbibliothek Edelmann am Bismarckplatz neue Bücher ausleihen konnte. Meine Großmutter hatte nun, trotz der räumlichen Distanz, immer ein schützendes Auge auf mich. Nie mehr versuchte meine Mutter, mich auf ihren nächtlichen Touren durch die Bars der Stadt mitzunehmen.

      Als ich schließlich knapp zwölf Jahre alt war, überstürzten sich die Ereignisse erneut. Meine Mutter war von einem ihrer Freier schwanger geworden und brachte ein kleines Mädchen zur Welt - Heidi, meine Halbschwester. Während wir die ersten Monate alleine auf uns gestellt waren und ich mich stundenlang um den Säugling kümmern musste, zog schließlich meine Großmutter zu uns. Sie bezog inzwischen Rente. Doch es gab noch einen zweiten Grund für ihr Kommen. Meiner Mutter war Krebs diagnostiziert worden. Von nun an wurden wir Kinder also von meiner Großmutter versorgt, während meine Mutter zeitweise im Krankenhaus war, ansonsten zu Hause, aber mit der Zeit immer schwächer wurde. Wir wohnten nun zu viert in dem kleinen Zimmer im Haus hinter der Gastwirtschaft und lebten von der kleinen Rente meiner Großmutter und von Sozialhilfe.

      Irgendwann in dieser Zeit hatten wir das große Glück, dass uns das Sozialamt eine kleine Wohnung am Rande von Heidelberg zuwies. Diese Wohnung bestand aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer, einer Küche und einem richtigen Badezimmer mit Toilette und Badewanne. Bis auf ein Bett für meine Mutter und ein kleines Kinderbett für meine Schwester war die Wohnung noch unmöbliert. Aber das war mir egal, sie bedeutete die Erlösung für mich.

      Und das Glück sollte anhalten. Eines schönen Tages, als ich von der Schule nach Hause kam, erzählte meine Großmutter mir mit leuchtenden Augen, sie hätte eine Überraschung für mich. Und diese Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Nur wenige Stunden später fuhr ein Pferdefuhrwerk vor und zwei kräftige Männer begrüßten uns. Sie forderten mich auf, doch mal mitzukommen um zu sehen, was sie mitgebracht hätten - und meine Großmutter nickte mir zustimmend zu.

      Und da stand ich dann hinter dem Pferdefuhrwerk, durfte unter die Plane blicken, die den Inhalt versteckte und war sprachlos. Fest geschnürt auf dem Pferdefuhrwerk waren eine wunderschöne Cordcouch, ein Sessel und ein kleiner Wohnzimmertisch – all das sollte von nun an uns gehören. Schon beim Anblick fühlte es sich an, als hätte ich das Paradies betreten. Doch die beiden freundlichen Männer hatten noch ein besonderes Geschenk für mich: ein Bücherregal. Es sollte all die Bücher beherbergen, die ich die letzten Jahre angesammelt hatte und gewöhnlich unter oder neben meiner Schlafstätte lagerte. Ich wusste nichts zu sagen, strahlte nur und ich schien zu schweben. Diesen Tag erinnere ich als einen, der alle Festtage auf einmal für mich bedeutete.

      Während meine Mutter nun im Schlafzimmer ihr Krankenbett stehen hatte, schlief ich im Wohnzimmer auf der Cordcouch, meine Großmutter auf dem Boden und meine kleine Schwester in ihrem Bettchen. So verging die Zeit und meine Mutter wurde immer schwächer; irgendwann bekam sie Morphium und war von da an nicht mehr wirklich ansprechbar.

      Eines Tages schließlich kam ich von der Schule nach Hause, ich war inzwischen 14 Jahe alt und meine Großmutter saß weinend am Wohnzimmertisch. “Deine Mutti ist gestorben.”, sagte sie unter Tränen zu mir. Ich ging in ihr Schlafzimmer. Die letzte Erinnerung an sie: eine unschöne, zermarterte Gestalt – tot.

      Und da stand ich und begann zu lachen. Ich lachte hysterisch, lachte und konnte nicht aufhören damit, auch am nächsten Tag nicht, als meine Großmutter auf einfachste Weise eine Trauerfeier für meine Mutter organisiert hatte. Ich lachte und lachte und lachte, tagelang – bis meine Großmutter mir eine scheuerte. Da stoppte das Lachen, und während sie mich in die Arme nahm, schluchzte ich auf und endlich flossen die Tränen.

      Kurze Zeit nach dem Tod meiner Mutter besuchten uns ferne Bekannte von ihr, deren Tochter keine eigenen Kinder bekommen konnte. Nach Absprache mit meiner Großmutter nahmen sie meine Halbschwester als Pflegekind in ihre Familie auf. So war ich schließlich mit meiner Großmutter alleine. Doch leider sollte diese Zeit nicht lange andauern – genau ein Jahr. Als ich 15 war, erkrankte auch meine geliebte Großmutter. Alles ging sehr schnell. Sie hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium, kam ins Krankenhaus und starb dort nur wenige Wochen später. Im Augenblick ihres Todes war ich bei ihr.

      Was ist der Tod, frage ich mich...

       Für mich bedeutet der Tod das andere Leben.

       In den jungen Jahren meiner Kindheit, in denen ich häufig durch den Krieg mit dem Thema Tod in Berührung kam, machte ich mir keine wirklichen Gedanken um ihn. Er war für mich ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens. Beim Tod meiner Mutter kam ich das erste Mal direkt mit ihm in Berührung. “Ist das alles?”, fragte ich immer wieder den toten Körper, der da vor mir lag: “Ist das alles?” Ich bekam keine Antwort. Und es mag hart klingen, doch der Tod meiner Mutter war für mich eine Art Erlösung.

       Die zweite Begegnung mit dem Tod, das Sterben meiner Großmutter, war eine ganz andere Erfahrung. Das Abschiednehmen ihrer Seele von dieser Erde empfand ich als großen Verlust, als hätte man ein Stückchen meiner selbst abgesägt. Ein Stück, das immer fehlen sollte. Und bei jedem weiteren geliebten Menschen, der in späteren Jahren von mir gehen sollte, ging es mir ähnlich.

       Doch ganz verloren war meine Großmutter mir auf meiner weiteren Lebensreise nicht, immer wieder kommunizierte ich mit ihr in Gedanken - und oft schien es mir, als würde ich sie von weitem irgendwo auf der Straße vor mir laufen sehen oder sie in einer Menschenmenge entdecken.

       Viele, viele Jahre später hatte ich durch eine Tetanusinfektion eine Nahtoderfahrung - ich war für wenige Minuten tot, ehe es den Ärzten gelang, mich wieder ins Leben zurückzuholen. Seitdem habe ich keine Angst mehr vor dem Tod. Er ist für mich eine weitere Reise, ein weiterer Ortswechsel, wie ich sie vielfach in meinem Leben unternommen habe. Eine Reise in ein Land, das ich noch nicht kenne. Es ist die große Reise in ein anderes Leben, das keine Schmerzen kennt, weder innen noch außen.

      Kapitel 2

      Ich sitze in einem meiner Lieblingskaffees im Zentrum von Ermioni. Hierher zieht es mich jeden Morgen nach einem kurzen Spaziergang durch den schattigen Pinienhain. Oft begegne ich hier am Hafen auch anderen Bewohnern des Dorfs, die an den Vormittagen Zeit haben. Dann sitzen wir gemütlich bei einer Tasse Kaffee zusammen, genießen die griechische Sonne und ich erfahre die Ereignisse vor Ort der letzten Tage.

      Ganz selten sitze ich aber auch alleine hier und nippe an meinem Kaffee. So heute, doch das kommt mir gelegen, denn ich habe gerade kein Ohr für die Neuigkeiten der Umgebung. Seit der seltsamen Begegnung vor wenigen Tagen in Nafplion, der ich vielleicht mehr Bedeutung zuweise, als ihr zusteht, geht mir so einiges durch den Kopf. Sequenzen meines inzwischen 78 Jahre langen Lebens laufen wie ein Schwarz-weiß-Film, der schon lange, lange nicht mehr gespielt wurde, vor meinem inneren Auge ab. Während ich nachdenklich dasitze, klopfst Du überraschend auf den Tisch. “Hey, guten Morgen, hast Du geträumt?”