Die nächsten Tage und Wochen kamen wir in verschiedenen Wohnungen bei Bekannten meiner Mutter unter. Überall waren viele Menschen in wenigen Räumen zusammengepfercht, nirgendwo konnten wir länger bleiben. Einige wenige Male schliefen wir sogar im Freien, in eine Ecke gekauert; oft gab es auch nicht genug zu essen. Des Nachts ließ mich meine Mutter oft alleine in den fremden Behausungen, in denen wir untergekommen waren.
“Ich war in einer Bar singen”, erklärte sie mir an den darauf folgenden Morgen, doch die ganze Wahrheit habe ich trotz meiner jungen Jahren errochen. Meine Mutter roch, nein, sie stank nach Männern, nach dreckigem Schweiß von Männern.
Eines Tages brachte sie mich schließlich, ohne genaue Erklärung, zurück ins Heim. Ich hatte das Gefühl, sie war unzufrieden mit mir und ich fühlte mich deshalb schuldig, war gleichzeitig aber heilfroh, wieder dort zu sein.
Weiterhin kamen oft, wie ich inzwischen wusste, amerikanische Soldaten vorbei, um uns mit Lebensmitteln zu versorgen. Eines Tages nahmen sie außerdem von jedem von uns Kindern ein Foto auf. Heute weiß ich, dass dies im Rahmen des UNRA Suchdienstes stattfand, einer Organisation des damaligen Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Unsere Portraits wurden mit dem Titel “Kind sucht seine Mutter” in allen großen Städten Deutschlands ausgehängt, in der Hoffnung, so Familienangehörige von uns auf uns aufmerksam zu machen. Eines Nachmittags kam tatsächlich eine alte, freundliche, doch sehr bestimmt auftretende Dame zu uns in den Speisesaal. Ihr folgte … meine Mutter. Mir stockte der Atem. Die alte Dame diskutierte mit meinen Betreuerinnen und stellte sich als meine Großmutter vor. Sie hätte mich auf einem der Bilder des UNRA Suchdienstes erkannt und nun wollten sie mich mitnehmen. Meine Betreuerinnen sahen meine Mutter verächtlich an: “Ach, wollen Sie sie jetzt doch wieder abholen?” Meine angebliche Großmutter betrachtete daraufhin meine Mutter zunächst verwundert, dann verärgert und streng. Die Art, wie diese Frau mit meiner Mutter umging, gefiel mir.
Als ich, die ich die ganze Szene aufmerksam von meinem Platz aus verfolgt hatte, gerufen wurde und schüchtern auf sie zuging, beugte sich die alte Dame zu mir herunter und umarmte mich herzlich. Sie nannte mich “mein Herzkirscherle” - und ich fasste Vertrauen zu ihr.
Licht und Schatten
In den kommenden Jahren sollten diese zwei Frauen für mein Leben von großer Bedeutung sein, meine Mutter und meine Großmutter. Während meine Mutter mir Abgründe vor Augen führte, erlebte ich meine Großmutter immer als einen Engel auf Erden. Allzuviel weiß ich über das Leben meiner Mutter nicht. Sie soll eine sehr kluge Frau gewesen sein, die eine gute Schule besucht hatte und sich in sieben Sprachen verständigen konnte. Zudem war sie eine sehr schöne Frau, groß gewachsen, schlank, mit pechschwarzen Augen und schwarzem Haar. In den Jahren des Krieges hatte sie für den deutschen Admiral Wilhelm Franz Canaris gearbeitet, der heimlich für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus tätig war. Welche Rolle mein Vater im Leben meiner Mutter gespielt hat, ob sie ihn geliebt hat, weiß ich nicht.
Meine Großmutter war und ist für mich das Idealbild einer Frau. Geboren Ende des 19. Jahrhunderts war sie nach der Jahrhundertwende eines der ersten Mädchen gewesen, das in Konstanz Abitur gemacht hat. Sie wollte eigentlich Journalistin werden, was ihr durch eine plötzliche, heftige Krankheit nicht möglich war. Nach dem Krieg arbeitete sie schließlich als Schneiderin und Näherin. Sie war immer schick, elegant, konnte aus jedem Lappen ein Abendkleid nähen. Auch ein Satz meiner Großmutter begleitete mich durch mein Leben: “Kind, wenn Du Geld hast für ein Brot oder ein Buch, dann kaufe Dir ein Buch.”
Die Betreuerinnen des Ferienheims stimmten der Aufforderung meiner Großmutter zu, sie packten meine wenigen Habseligkeiten zusammen, und gemeinsam mit den beiden Frauen fuhren wir noch am selben Tag nach Heidelberg. Dort kamen wir zunächst für wenige Tage in einem Gasthaus unter. Da meine Mutter nun, durch die UNRA Suchaktion, Papiere für mich in der Hand hatte, konnte sie eine Aufenthaltsgenehmigung für mich erwerben. Damit verbunden waren Lebensmittelkarten und ein Schein vom Wohnungsamt, dass wir das Recht hatten, ein Zimmer zu bewohnen. Wir bekamen eines im Hinterhaus eben der Gastwirtschaft, in der wir zunächst untergekommen waren. Dort wohnte ich von da an mit meiner Mutter. Meine Großmutter ging zurück in ihre kleine Wohnung in einem Vorort von Heidelberg.
Das Leben mit meiner Mutter war kein Zuckerschlecken.
Nein, ich habe keine schönen Erinnerungen an diese Zeit. Allein, wenn ich den Geruch erinnere, den das Gebäude, in dem wir wohnten, umgab, insbesondere aber das Zimmer, in dem ich mit meiner Mutter hauste, wird mir übel - und ich erschauere vor Ekel. Unser Zimmer roch bis in die letzte Ritze nach Schweiß und überall lag schmutzige Wäsche. Meine Mutter ging weiterhin des Nachts “zum Singen” in Bars und kam oft in Begleitung mitten in der Nacht zurück. Nach wenigen Wochen nahm sie auch mich auf ihren nächtlichen Touren mit. Ich saß dann in rauchigen Kneipen auf einem kleinen Barhocker am Rande und sah meiner Mutter beim Singen und Tanzen zu … und später holte sie mich, die ich seit dem Vorfall im Rinnstein wegen eines verkürzten Beines hinkte, mit auf die Bühne. Und ich wurde aufgefordert zu singen und zu tanzen. Noch heute fällt es mir schwer, nur daran zu denken. Es war so demütigend für mich. Ich, ein Mädchen im Alter von etwa zehn Jahren, fühlte mich in diesen Situationen erschreckend würdelos; ich fühlte mich unsittlich begafft, ich fühlte mich auch bemitleidet, wobei ich nicht weiß, was schlimmer für mich war. Ich weiß nur, ich hatte Sehnsucht nach dem Kinderheim, nach einer heilen Welt.
Meine Mutter präsentierte mich, setzte mich dann wieder auf meinem Barhocker ab und widmete sich schließlich dem Ziel, einen Mann für die Nacht zu angeln. Oft erst in den frühen Morgenstunden kehrten wir - meine Mutter meist in Begleitung - nach Hause zurück und während ich den Schlaf nur so ersehnte, nichts mehr hören und sehen wollte, ging es im Nebenbett zur Sache. Auch tagsüber empfing meine Mutter ab und an Freier, wobei ich zum Spielen nach draußen geschickt wurde bzw. im Nebenbett versuchte zu schlafen. Gefühle von Scham quälten mich, wobei ich nicht einmal genau verstand, warum.
Ein Schicksalsschlag errettete mich nach knapp eineinhalb Jahren aus dieser schrecklichen Zeit. Ich wurde krank. Mein eigentlich gesundes Bein brach am Schienbein auf und stinkender Eiter tropfte. Meine Mutter musste mich ins Krankenhaus bringen, wo zunächst die offenen Stellen gesäubert wurden. Ein großgewachsener, stattlicher Arzt, dem ich vom ersten Moment an vertraute, kümmerte sich um mich und diagnostizierte Hauttuberkolose, verursacht durch unhygienische Verhältnisse. Man behielt mich im Krankenhaus. Das war das Paradies für mich. Ich bekam ein sauberes Bett, konnte schlafen soviel ich wollte und bekam regelmäßig etwas zu essen. Es dauerte nicht lange, da kam meine Großmutter zu Besuch, die erst jetzt das eigentliche Leben meiner Mutter zu begreifen schien. Sie ließ mich von nun an nicht mehr aus dem Auge. Sie erkundigte sich bei dem netten Arzt über meinen gesundheitlichen Zustand und die beiden vereinbarten, nach der Ausheilung der Tuberkulose auch die noch ausstehenden, durch den Vorfall im Rinnstein notwendigen