Milans Weg. Franziska Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franziska Thiele
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738002904
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Bevor sie ging, machte die hübsche Frau Milan noch auf den wöchentlichen Termin beim Berater in der Verwaltung Aufmerksam, ließ dann etwas leiser verlauten, dass auch sie im Verwaltungsgebäude zu finden sei und schloss dann die Tür hinter ihm. Als Milan in seinem neuen kleinen zu Hause stand, durchfuhr ihn eine Welle der Erleichterung Er war mit einem Male dankbar für die Organisation, für ein fertig möbliertes Apartment, ja, sogar für die Möglichkeit, sich jederzeit an jemanden wenden zu können. Auf dem Weg vom Flughafen hierher beobachtete er das Stadtgeschehen, die beschäftigten Menschen und ihm wurde wieder einmal bewusst, dass im Normalfall keiner zu ihm gekommen wäre, um ihm die Stadt zu zeigen, eine Wohnung zu suchen und Gesellschaft geleistet hätte. Darüber hatte er, der das letzte halbe Jahr rundum versorgt und durch die Tabletten ohnehin unfähig war, sich um diese Dinge zu kümmern, wenig nachgedacht. Er sah sich die Menschen an und fragte sich, was ein jeder antworten würde, wenn Milan sich mit der Bitte, ihm etwas zu helfen, vorstellen würde. Dort lief eine alte Dame mit goldener Handtasche: Sie hätte sich wohl erschrocken und aus Angst vor einem Taschendieb so schnell es ihr noch möglich war, ab gewunden. Der Mann im Anzug, der seine Laptoptasche lässig unter dem Arm geklemmt hatte, während er telefonierte, er hätte ihm vielleicht eine Nummer von einem Makler gegeben, der Milan dann aus Unsicherheit über seinen zukünftigen Verdienst nichts hätte vermitteln können. Dann sah er eine junge blonde Frau auf einem Fahrrad. Studentin, dachte er, eine typische Studentin. Sie trug einen Rucksack, wäre wahrscheinlich nett gewesen, aber schön spät dran, weil gleich die Vorlesung begann. Sie hätte ihm vorgeschlagen, eine Anzeige auf dem Pinbrett in der Universität hin zuhängen und sich dort nach Wg-Zimmer umzusehen. Milan fiel auf, dass er gar kein Handy mehr hatte. Ihm fiel auf, dass er erst mal aufgeschmissen, alleine und orientierungslos gewesen wäre. Den Rest des sonnigen Nachmittags setzte sich Milan auf den Gartenstuhl seines Balkons und genoss die Erleichterung, nicht ziellos und verloren in der Stadt herumzuirren. Er dachte daran, wie er damals auf Mallorca, den Strand entlang wanderte um sich von allem und jeden abzuwenden, wie er zuerst das Wasser, die Stille und die Freiheit genoss Er sah sich in seiner sandigen Kleidung, die er nach und nach zurückließ. Dachte etwas wehmütig an seine große Idee, sein Verlangen, der Gesellschaft den Rücken zu kehren, zu zeigen, dass nur das Leben, das Überleben in der Natur das wahre Leben war, dass die Gesellschaft nur noch in künstliches Fassaden lebt und sich eine Scheinwelt aufgebaut hatte. Dann dachte er an den Morgen, an dem er im Sand mit verklebte Augen aufwachte. Sie hatten geschmerzt, als das Sonnenlicht einfiel, tränten vor Trockenheit. Er dachte an seine steifen Glieder, die nicht mehr weiter wollten, an die Idee, die sie dann doch zwang, sich wieder und wieder aufzuraffen, an die Schmerzen beim Aufstehen. Durst, noch nie hatte er so Durst gehabt – und Hunger. Dann endlich, endlich erschien ihm die Szene, die lang vermisste Szene, der Cut, der Wendepunkt, das tragische Ereignis, dass er verdrängt hatte. Nun endlich sah er sich vor seinem Inneren Auge, erkannte sich, der ausgemergelt in Fetzen dasaß, zuerst kaum selbst. Es gab nichts, wirklich nichts dort am Strand, was er hätte trinken oder essen können, doch seine Kräfte verließen ihn. Es war eine Überwindung, nein, es fiel ihm nicht leicht, ganz und gar nicht. Und Milan saß da und schüttelte seinen Kopf verneinend hin und her. Er fand dieses tote Tier, das gerade erst gestorben sein musste. Er wollte es sich zuerst nur ansehen, wie es da lag, auf einer kleinen Wiese, wenige Meter vom Strand entfernt. Er fasste das Fell des Eichhörnchens an und dann, dachte Milan, während er weiter den Kopf schüttelte und nun noch den Mundwinkel bedauernd nach unten zog, bis sein Gesicht einer Grimasse glich, dann nahm er es und setzte sich auf einen Stein. Woher die Leute kamen, dass wusste er nicht. Vielleicht hatte er in seinem Zustand noch nicht einmal mehr mitbekommen, dass er hätte Hilfe bekommen können, dich die lehnte er ja ab. Der Hunger zwang ihn, das Tier mit den Händen aufzumachen und von dem warmen Fleisch zu essen. Er registrierte die Traube von Menschen, die sich um ihn scharte, ihn ungläubig anstarrte, nicht. Mütter hielten ihren Kindern die Hände vor den Augen, blieben aber dennoch stehen. Schließlich wurde er mitgenommen. Er wusste noch, wie man ihn einfach mit zog. Er wusste noch, dass man ihn nach seinem Namen gefragt hatte und er Frank geantwortet hatte. Dann schlief er unglaublich lange und wachte in der psychiatrischen Klinik wieder auf. Nun starrte Milan nur noch geradeaus, bis eine Wolke über die Sonne zog und das wechselnde Licht ihn in die Gegenwart zurück holte. Milan atmete tief durch.

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      Die ersten Wochen in der neu gewonnenen Freiheit verbrachte Milan damit, die Gegend zu erkunden und die Möglichkeit, zu tun, was und wann er es wollte, auszukosten. Milan ging meistens direkt aus dem Gelände für das betreute Wohnen heraus, da er keine Lust auf Konversation und noch weniger Lust auf Gespräche über Genesung, Wohl- oder Unwohl befinden oder psychische Störungen, hatte. Zu schwer erschienen ihm nun all die Zwangsneurosen, die Verhaltensauffälligkeiten, die Kämpfe, die in einem jeden von ihnen, die hier unter gebracht waren, innerlich zu führen hatten. Endlich spürte Milan die Leichtigkeit des freien Handelns. Natürlich musste er sich hin und wieder zeigen, einmal die Woche an ein therapeutisches Gespräch führen und auch einmal in der Woche bei einem gemeinsamen Kochen und miteinander Essen teilnehmen. Doch im Vergleich zu dem Leben in der Klinik davor, in dem er stetig überwacht, von Blutdruckmessgeräten und Krankenschwestern mit bunten Tabletten vom Menschen zum Versuchsobjekt degradiert worden war, fühlte er sich nun endlich wieder etwas menschlicher. Vormittags ging Milan meist durch die Stadt spazieren. Obwohl ihm die Erinnerung an Bremen, wo er zwischen großen Betonblöcken und unter einem in seiner Erinnerung immer grauen Himmel, dahingeschlichen ist, die Lust auf eine Stadt genommen hatte, empfand er das städtische treiben hier weniger bedrückend. Die Gebäude waren nicht ganz so erdrückend, der Himmel oft in diesen Frühlingstagen hellblau mit kleinen weißen Wölkchen, die ihn durch Muster verzierten, und die Menschen, denen er begegnete, wirkten nicht ganz so kaputt wie die in den Straßen seiner Heimat. Milan sprach mit wenigen, fühlten sich aber dennoch nicht so abgeschlossen von den Menschen wie auf Mallorca. Manchmal setzte er sich in ein kleines Straßenaffe an einen einzelnen Tisch. Kaff mit Milch hieß auch hier mittlerweile Latte Macchiato – aber er schmeckte gut. Als er das kleine Café des öfteren aufgesucht hatte, und der Kellner, den er hier immer antraf, mit den kleinen Floskeln, die sie jeden Tag wechselten begannen, fragte ihn dieser, ob er neu hier in Köln sei. Der Kellner war Anfang fünfzig, wirkte aber wesentlich jünger. Das ständige hantieren mit dem Geschirr, die Bewegung, die seine Arbeit mit sich brachte, sorgte dafür, dass der Körper kraftvoll wirkte. Milan setzte sich gerne hierher, weil er sie Frische, die dieser Mann jeden Vormittag von neuen ausstrahlte, genoss, sie mit all seinen Sinnen auf sog und an der Energie teilhaben konnte. Milan verneinte, er sei erst jetzt nach Köln gezogen. Jetzt war es soweit, dachte er, natürlich mussten die Momente kommen, in denen er sich wieder rechtfertigen musste. Um dem Gesprächsverlauf eine andere Wendung zu geben, um nicht gefragt zu werden, wo er herkomme und wohne, und was er in Köln mache, plapperte Milan, wie es nicht zu ihm passte, er es aber schon immer gut gekonnte hatte, einfach drauflos. Er erzählte, dass ihm die Stadt gut gefallen würde, dass es ein nettes Flair hier sei und man sich bestimmt wohlfühlen könne. Nach einigen Sätzen belangloses Geredes machte er nun endlich einen Punkt. Der Kellner schien ebenfalls von diesem Wortschwall dieses sonst so wortkargen Gastes überrascht worden zu sein. Er schien zu Milans Erleichterung bis auf wenigen Begrüßungssätzen nicht sehr viel von belanglosem Small Talk zu halten, erkundigte sich nach einer weiteren Bestellung und verließ dann Milans Tisch. Die nächsten Tage suchte Milan das Café nicht mehr auf. Er versuchte, wenn er Lust hatte sich etwas zu bestellen, dies immer woanders zu machen. Seine Scheu vor den Fragen der Menschen, vor der Rechtfertigung war nach wie vor geblieben, dachte er nach einige Wochen, als er nun viele der zu Fuß erreichbaren Cafés bereits besucht hatte und nun nicht mehr wusste, wohin er sich setzen sollte. Erneut sah er sich mit seiner, wie es die Psychologen immer fachlich korrekt ausgedrückt hatten, neurotischen Störung im gesellschaftlichen Umgang, konfrontiert. Immer hatte er versucht, den Psychologen zu erklären, dass es ihm nicht um die Angst vor dem Menschen im allgemeinen ginge, auch nicht die Angst vor Fremden, nein, ganz und gar nicht, es sei die Angst vor dem gesellschaftlichen System, in dem sich eben nun alle befinden und das ihm nicht zusagt, welches er so, wie es in dieser Form von allen gelebt wird, nicht seiner Einstellung, seiner Lebensweise entspricht und er sich fühlt, als wolle man ihm dieses System aufdrücken. Nie hat ein Psychologe dies so verstehen können, zu sehr steckte ein jeder von ihnen selbst in dem großen System der Gesellschaft, da allein ihr Ausbildungsweg bis hierher sie fest in die Maschen dieses Netzes eingebettet