Die Freistaaten. Jens Zielke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Zielke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738089738
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| Bundeskanzleramt | 7 Uhr

      Der Innenminister platzierte das süddeutsche Flugblatt, das im Innenministerium und bei ihm für ein nervöses Unverständnis gesorgt hatte, auf Schindlings Tisch. Er war das Opferlamm. Er sollte die schlechte Nachricht überbringen. Wenigstens Brandner hatte den Mut gefunden und war mitgekommen.

      „Dieses Flugblatt wird seit heute Morgen im Süden der Republik verteilt“, sagte er, bevor Andreas auch nur einen Blick auf das Papier werfen konnte. Er und Brandner hatten sich vorgenommen, beschwichtigend auf Andreas einzuwirken. Die bürgerlichen Parteien hatten dem Kanzler Schindling stets vorgeworfen, dass er zu zögerlich und unsicher handelte. Er und sein Umfeld konnten aber mit gutem Gewissen behaupten, dass Andreas ein Mann der Tat war. Dieser Charakterzug und dass er keiner speziellen Wählerschaft zugeordnet werden konnte, waren für seine Erfolge verantwortlich.

      Einen weiteren Beweis für sein politisches Können hatten die Fernsehduelle geliefert. Vor vier Jahren hatte Andreas seinen Vorgänger, Bundeskanzler Seidel, verbal zerschmettert. Die erste Hälfte der Fernsehdebatte war harmlos verlaufen. In der zweiten verschärfte Andreas aber den Ton.

      „Herr Bundeskanzler, ich und Deutschland warten auf die Beantwortung einer dringenden Frage.“

      „Ich bin ganz Ohr“, hatte Seidel sorglos geantwortet. Andreas hatte bis dahin noch nicht wirklich punkten können. Und bei einem Unentschieden gewann immer der Titelverteidiger. Seidel hatte sich daher offensichtlich für einen defensiven Kurs entschieden.

      „Warum, glauben Sie, ist Deutschland in so einer fatalen Lage?“, hatte Andreas weiter gefragt.

      „Ich denke nicht, dass Deutschland in einer fatalen Lage ist.“

      Andreas hatte die Erheiterung über diese Antwort versteckt und die höfliche Miene beibehalten.

      „Ihre ausweichende Antwort zeigt mir, dass niemand aus der Regierung bereit ist, über die Probleme des Landes nachzudenken. Stattdessen werden nur Ausreden aus der Schublade gezaubert“, hatte er aggressiv nachgesetzt.

      „Sie tun sich keinen Gefallen, wenn Sie die gesamte deutsche Politik infrage stellen.“

      „Ich stelle nur ihre Unfähigkeit zur Stellungnahme infrage.“ Die Kamera hatte nun eine Großaufnahme von Andreas gezeigt. In ruhigen Zeiten hätte seine Aggressivität die Wähler abgeschreckt. Da Europa aber immer mehr unter der steigenden Armut litt, waren die Bürger erfreut über sein kämpferisches Auftreten. Passive Politiker, die einzig damit beschäftigt waren die Dinge schönzureden, hatten sie zur Genüge erlebt.

      „Herr Seidel, Deutschland braucht einen Kanzler, der alle Menschen anspricht. Von der Mitte aus muss Politik für jeden praktiziert werden.“ Erwartungsvoll hatte Andreas den Kanzler angesehen.

      „Ihre plumpen Vorwürfe sind keiner Antwort wert. Meine Politik gilt allen Deutschen“, hatte Seidel geantwortet.

      „Sie wissen gar nicht, wie recht Sie haben. Nicht umsonst war es Ihre Politik, die das Land heruntergewirtschaftet hat. Die meisten Bürger werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass es Ihnen gelungen ist, viel Geld auf wenige Schultern zu verteilen.“

      Die Medienprofis des Landes waren überzeugt, dass die Wahl in diesem Augenblick zu Andreas Gunsten kippte. Seidel, der für sein Pokerface bekannt war, hatte selten dämlich in die Kameras geschaut und ihr Wahlkampf-Team hatte noch am Abend reagiert. Zwei Tage später hing an jeder freien Wand des Landes ein Plakat, das diesen Gesichtsausdruck zeigte. „Wollen Sie, dass dieser Mann weiterhin Deutschland regiert?“ War die Überschrift des Plakats.

      Kein monatelanger Wahlkampf, sondern drei Sekunden hatten dem Kandidaten Schindling also den entscheidenden Schritt ins Kanzleramt bereitet. Die Vorwürfe eines schmutzigen Wahlkampfs waren an ihm abgeprallt. Einzig er hatte seinen Unmut über die Methode geäußert. Andreas hatte ihm aber mit einem Vortrag über politische Moral geantwortet, der mit einer Frage endete. „Was soll ich machen? Die Bürger belügen oder die Gelegenheit nutzen und meinen Gegner fertigmachen? An die Macht kommst du nur mit einem von beidem. Und die Bürger sind zu oft belogen worden.“

      Er hatte nichts erwidert. Sein ungewohntes Schweigen hatte Andreas damals bewogen, ihn ungläubig anzusehen. Und auf dieselbe Weise sah Andreas jetzt das Flugblatt an.

      VORWÄRTS OHNE DEUTSCHLAND

      IM LÄNDERFINANZAUSGLEICH GIBT ES NUR DREI NETTOZAHLER. BAYERN, HESSEN UND BADEN-WÜRTTEMBERG. WIR HABEN GEZAHLT UND UNS VERSCHULDET. DOCH BERLIN VERSCHWENDET UNSER GELD.

      DAMIT MUSS SCHLUSS SEIN! WIR STEHEN IN DER PFLICHT UNSERER BÜRGERINNEN UND BÜRGER. IN IHREM INTERESSE GEHEN WIR.

      VORWÄRTS OHNE DEUTSCHLAND!

      ES WAR DER PREUSSISCHE KAISER, DESSEN IMPERIALISMUS UNS IN DEN ERSTEN WELTKRIEG GETRIEBEN HAT. DIESER KRIEG FÜHRTE IN DIE DUNKELSTE ZEIT UNSERER GESCHICHTE. IM ZWEITEN WELTKRIEG FAND DIESE ZEIT IHREN TRAURIGEN HÖHEPUNKT.

      AMERIKA VERDANKEN WIR DAS WIRTSCHAFTSWUNDER, DAS UNSEREM LAND DEN AUFSCHWUNG BRACHTE.

      DOCH DIE ZEITEN SIND ERNEUT DUNKEL. BERLIN HAT VERSAGT. STEUERERÖHUNGEN, ARBEITSLOSIGKEIT UND SOZIALE KÄLTE DOMINIEREN DAS LAND.

      DIE BÜRGERINNEN UND BÜRGER MÜSSEN FÜR EINE VERFEHLTE POLITIK ZAHLEN.

      LASST UNS GEMEINSAM AM 26. OKTOBER IN EINE BESSERE ZUKUNFT AUFBRECHEN!

      KOMMT ZUR VOLKSABSTIMMUNG UND SAGT: JA!

      SAGT JA ZUM AUSTRITT AUS DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND.

      SAGT JA ZUR UNABHÄNGIGKEIT VON BAYERN, HESSEN UND BADEN-WÜRTTEMBERG.

      MEHR ZU UNSEREM PROGRAMM FINDEN SIE IM INTERNET ODER IN DEN GESCHÄFTSSTELLEN UNSERER VEREINE.

      UNTERZEICHNET

      MEIN HESSEN e. V., SCHÖNES BAYERN e. V., DEIN BADEN-WÜRTTEMBERG e. V.

      „Zumindest brauchen wir kein Rätselraten mehr zu veranstalten, um herauszufinden, was für eine Volksabstimmung von Carstheim durchführen will.“ Schindling nahm die Lesebrille vom Kopf. „Der Freiherr macht also Ernst.“

      Brandner hängte sein Jackett über eine Stuhllehne. In seinen Achselhöhlen hatten sich Schweißflecke, so groß wie Untertassen, gebildet.

      „Ob wir wollen oder nicht. Wir müssen auf diese separatistische Propaganda reagieren.“

      Brandner war unfähig Schindling zu antworten. Er beschäftigte sich mit dem, was geschehen konnte, sollten sich diese Entwicklungen verschärfen. Das kann nicht sein. Das muss eine groß angelegte Werbekampagne für ein Scheißprodukt sein. Kein Mensch ist so verrückt und greift die Deutsche Einheit an.

      „Die Ministerpräsidenten und die wichtigsten Politiker des Südens müssen kontaktiert werden“, sagte der Innenminister. „Und in einer halben Stunde solltest du eine Rede ans Volk halten. Der Aufruf darf nicht unterschätzt werden. Deutschland und Europa befinden sich in dermaßen schlechter Verfassung, dass die Süddeutschen durchaus auf die Volksabstimmung anspringen könnten.“

      „In einer Stunde möchte ich meinen Krisenstab sprechen und ihr müsst mir die Ministerpräsidenten der sogenannten Freistaaten ans Telefon holen“, sagte Schindling entschlossen. „Jede Sekunde zählt. Besorgt mir jegliche Informationen, die es über die Vereine gibt. Und sorgt dafür, dass die Medien die Hetzschriften nicht auf ihren Anzeigenseiten bringen.“

      „Wir werden tun, was in unserer Macht liegt.“ Brandner griff nach seinem Jackett und vom Innenminister wurde er aus dem Büro gezogen.

      Allein gelassen, studierte Schindling das Flugblatt ein zweites Mal. Seiner Einschätzung nach handelte es sich um populistisches Geschwätz.

      „Deutschland ist getrennt, die UdSSR wird die DDR nicht zurückgeben. Das ist so und das wird so bleiben. Der Ruf nach einer Wiedervereinigung ist Blödsinn.“ Eine tief in seinem Gedächtnis