„Wasted", sagte Milosch, als wir in der U-Bahn saßen, "wir sind wasted."
Immer wenn er ein neues Wort entdeckte, wiederholte er es, das kannte ich schon.
"Sind wir wasted?" fragte ich ihn.
Ich sah unser Spiegelbild im Fenster: dreckig, übernächtigt,
Augenringe.
Wasted, das trifft es irgendwie.
"Er hat Recht“, sagte Milosch. "Wir müssen was tun. Ne Lesung organisieren, oder ein Konzert oder..."
Die einzige Sünde ist die Verschwendung der Morgendämmerung.
Und dafür gibt es keine Vergebung.
Feiern - Kapitel 9
„Hallo." Diese Stimme kannte ich.
Etwas in mir wurde in höchste Alarmbereitschaft versetzt.
Er kam zur Tür, er fragte nach mir.
Ich zuckte zusammen. Da stand wirklich Niko, in der Wohnung, die für mich in den letzten 3 Wochen zu einem Zuhause geworden war. Er stand da, mit seinem schwarzen T-Shirt, unsicher, fragend.
„Was machst du denn hier?"
„Christoph hatte keine Zeit. Deine Eltern haben angerufen. Sie wollen dich abholen."
„Was? Wann denn?"
„Nächste Woche."
„Ok, danke. Nett, dass du extra vorbeikommst."
„Wie gesagt, Christoph hat mich darum gebeten. Außerdem soll ich Milosch den Termin für den Familientag sagen. Und es lag sowieso auf dem Weg. Wo ist Milosch eigentlich?" Er blickte sich nervös um.
„Willst du was trinken?" sagte ich, nur um ihn zu ärgern. Er sah mich an, als hätte ich etwas sehr Merkwürdiges gesagt. Dieser irritierte Nikoblick, es war schwer, sich nicht von dieser Kälte und Distanz abschrecken zu lassen. „Arbeitest du heute auch im Viktoriapark? Da spielt doch so ne Band - Milosch wollte da hin, ich werd auch da sein."
„Ich weiß noch nicht. Mal sehn, vielleicht geh ich da hin."
„Woher kennst du Christoph?“
„Vom Studium. Wir waren gute Freunde."
Er schwieg. „Und warum erzählt dir Christoph...“
„Deine Eltern machen sich Sorgen. Sie haben ihn angerufen, als ich bei ihm zu Besuch war.“
„Seid ihr noch Freunde?“
„Na ja, ...er hat versprochen, mir beruflich weiterzuhelfen.“
„Ja, der tolle Christoph, der hat Connections.“
Niko grinste, schien langsam aufzutauen.
„Warum bist du von zuhause weggelaufen?“
„Ich bin nicht weggelaufen. Ich wollte mein eigenes Leben leben. Das geht in Erfurt nicht.“
„Das stimmt.“
„Warum, kennst du Erfurt?“
Niko lachte. „Ich bin dort geboren und aufgewachsen.“
„Du wirkst nicht wie ein Erfurter.“
„Meine Eltern kommen aus der Nähe von Berlin.“
„Meine auch. Dann sind wir uns all die Jahre niemals begegnet.“
Jetzt sah er wieder ängstlich aus.
Keine Chance, dieses Gespräch würde nicht besser werden, so was passiert, dachte ich wieder, so, wie vor langer Zeit, als alles angefangen hatte. Abhaken.
„Tschüss“, sagte ich und öffnete die Tür. Erleichtert und irgendwie enttäuscht ging er.
Ich erwachte auf einer Parkbank. die Sonne muss mich geweckt haben, oder die Kälte, ich weiß es nicht.
Nach Hause laufen, nicht abgeschminkt, mit den Klamotten von gestern und dem Geschmack einer Überdosis Wein im Mund. Ich schleiche in unsere Wohnung, den Schlüssel hatte ich wohl nicht verloren. Dann der Blick in den Spiegel, ich sitze da, im Bad, vor dem Spiegel und starre mich an, als sähe ich mich zum ersten Mal. Denn das bin nicht ich, die da im Spiegel. Es ist das erste Mal, dass ich mich nicht spöttisch, kritisch betrachte. Und ich suche nach Erinnerungen, an Spuren von gestern Abend. Ich laufe an dem Toilettenhäuschen vorbei.
Niko und ich.
Sein Auto, wir sitzen in diesem Auto.
Ich sehe sein Auto vor mir, jedes Detail.
Dann nichts mehr.
Dann das Aufwachen im Park.
Wir waren gestern alle im Viktoriapark gewesen, nach einer langen Nacht im Palace.
Wir liefen rum, holten uns Wein, hörten der Band zu. Milosch erzählte stundenlang Stories aus dem Palace, Karen lachte über jeden schlechten Witz.
Ich lag im Gras und ließ meinen Kopf Karussell fahren.
Ich registrierte Niko, der kurz mit Milosch gesprochen hatte, sich dann wieder zur Bar begeben hatte, sich immer wieder mit verschiedenen Menschen unterhielt. Wenn ich ihn sah, mit dieser absoluten Lebensfreude, dieser unbedarften Fröhlichkeit, war da nichts mehr übrig, von dem Dunklen, Fragenden von heute Vormittag.
Ich musste an das denken, was Wladi gesagt hatte das letzte Mal auf dem Dach, als er sich mit Tamara unterhalten hatte. Sie fragte nach Niko.
„Tja Nikita“, sagte Wladi. Er nannte Niko oft Nikita.
„Der schlunzt so rum wie man ihn eben kennt."
„Fährt er immer noch Taxi?“
„Keene Ahnung, hat ja jeden Tag nen neuen Job."
„Naja warum regst du dich auf? Wenn er glücklich ist...“
„Das isses ja, er ist nicht glücklich. Du weißt doch seine Geschichte...“
„Jaja ich weiß. War er mal beim Psychologen?“
„Ach nee, was soll denn ein Seelenklempner schon machen? Tabletten? Auf keinen Fall.“ „Vielleicht muss er einfach warten, bis es aufhört."
„Wie lange denn? Bis er 70 ist? Nee.“
Wladi schüttelte wieder sein graues Haupt.
„Nee nee. “
„Alina muss kommen“, sagte Tamara.
„Hab ich auch schon dran gedacht“, antwortete Wladi.
„Ja und?“
„Ach dann fängt die wieder mit ihrer Band an. Dass sie zu MTV will und der ganze Scheiß und Niko soll ihr Songs schreiben..."
„Aber mit der Sache hat sie ihm doch immer geholfen.“
„Jaja ich weiß.“
An dieses Gespräch dachte ich jetzt. Ich wusste nicht, was sie gemeint hatten, wusste nicht, wer Alina war. Aber jetzt sah ich ihn an und dachte wer bist du? Ich wusste es nicht, ich wusste gar nichts. Er hatte seine Kämpfe, Probleme zu bewältigen, von denen ich nichts wusste.
Milosch und Karen schlafen irgendwann ein, liegen auf der Decke, ihre Jacken über sich. Ich schlafe auch, dann wache ich auf, auf dem Weg zum Toilettenhäuschen komme ich an Nikos Auto vorbei. Die Vorstellung, dass wir uns jetzt treffen und dann alles anders sein wird, bleibt. Hier, in dieser Zwischenwelt, zwischen Schlaf und Wirklichkeit, Träumen hätten wir wahrscheinlich die Chance uns wirklich zu treffen ohne erdachte Hindernisse. Er sitzt da in seinem Auto, er sieht mich an, ich sehe ihn an und das ist der Moment, aus dem wir nicht mehr entkommen können.
Was ist dann passiert? Ich bin zurückgegangen, habe geschlafen, hier auf dieser Bank, neben unserer Decke, oder?