„Jeder hat mir gesagt, bist du verrückt, das geht nicht, bla, bla…
Wenn du immer nur darüber nachdenkst, was verboten und erlaubt ist, hast du schon verloren. Ich dachte auch, ich spinne. Hab mich bereden lassen. Von meinem Vater. Ich soll mich schämen, hat er gesagt. Dabei war er nicht mein Vater. Das mit dem Geheimnis liegt in der Familie.“ Er lachte. „Meine Mutter war ein Russenliebchen. Hat sich nur geschämt, ihr ganzes Leben lang. Ein russischer Offizier namens Sergej. Zwei Söhne hat sie als Abschiedsgeschenk bekommen, mich und Nikolas.
Ich hab nach meinem Vater gesucht, ich wusste auch nichts von ihm. Ihn hab ich nicht gefunden, aber seine Frau Ulyana, mein Halbschwesterchen Alina, die hat mich Wladi genannt, deshalb... Und nebenan wohnte Tamara.“ Er lächelte weggetreten.
„Es war nicht einfach. Ich konnte ja nicht ohne Grund in die Ukraine fahren, so als Tourist. Obwohl ich nie in die FDJ eintreten wollte, habe ich`s dann doch gemacht. Meine Band hat dann linientreue Lieder gespielt...die Texte! Oh Mann...wir haben die nur verarscht aber...hat keiner kapiert. Wir haben dann ein Konzert organisiert, um die Freundschaft mit der Sowjetjugend zu stärken - was als braver Jungpionier schon immer mein Ziel war. Ich hab mir die Haare geschnitten und ein Hemd angezogen. Und dann war ich da.“
„Das war sehr mutig von dir.“
„Irgendjemand musste ja mal die Eier haben in dieser Schisserfamilie. Wenn du nicht mehr an dich selbst glaubst, dann kriegen sie dich. Auch dass die Mauer fällt, hab ich immer gewusst.“
„Ich auch.“
„Wundert mich nicht, Kinder wissen immer die Wahrheit. Du warst nur ein Kind, sie haben über dich gelacht. Ich kam dafür in den Stasiknast.“
„Nach Erfurt? Ich komme auch aus Erfurt.“
Wladi reagierte nicht. Nach ein paar Minuten sagte er: „Und? Sagt dir was, Stasiknast, oder?“
„Klar!“
„Tja, der Stasiknast war berühmt.“
„Was ist aus Tamara geworden?“
„Als ich aus dem Knast kam, kurz vor der Wende, wurde mir die Ausreise in den Westen angeboten. Ich bin nach Kreuzberg gezogen, in diese Butze und bin Sozialarbeiter geworden. Da habe ich Tamara dann wieder gesehen. Das ist wie in nem kitschigen Film...einerseits war ich überrascht, andererseits war alles so klar. Als wäre es nun mal so vorherbestimmt. Und nach langem Hin und Her, haben wir dann geheiratet. Ich habe eins daraus gelernt, Rena:
Glaub dran, andere werden das nicht für dich tun.“
„An was?“
„An was auch immer. Ist nicht wichtig. Such´s dir aus.“
Langsam wurde es hell. Ich hörte einen Schlüssel in der Tür. „Mein Bruderherz. Der ist Taxifahrer, der kann dich mit in die Stadt nehmen.“
Da stand er: Niko. Ich hielt ihn für eine Halluzination, ausgelöst durch fehlenden Schlaf, Çay und Wladis irre Lebensgeschichte. Niko sah mich an mit dem Ausdruck absoluten Schocks, die Pupillen geweitet. Das war ein Anderer, als der, den ich gestern gesehen hatte. Wladi fragte: „Kennt ihr euch?“ Niko sah jetzt völlig unbeteiligt aus, ein Trick von ihm, diese Fähigkeit, von einer Sekunde zur anderen, vollkommen gleichgültig und kalt zu wirken. „Nee.“
„Na Brüderchen, was treibt dich zu mir?“
„Ich wollte dich fragen ob du heute Nachmittag auf Lisa und Tobi aufpassen kannst?“
„Geht klar, ich oder Tamara. Willste gleich wieder los, oder trinkst du noch´n Tee?“
„Keine Zeit, ich muss weiter.“
„Na, dann nimm die junge Dame ein Stück mit.“
Niko sagte nichts, nahm nur die Autoschlüssel und ging.
Wladi sah mich entschuldigend an. „Mein Bruder, nimm ihn nicht ernst.“
„Hau rein, Wladi.“
„Du auch und komm mal wieder rum.“
Ich folgte Niko und stieg in sein Auto. Er sagte nichts, sah mich nicht an, legte nur ein Tape ein: „Live forever“ von Oasis. Ich weiß nicht genau, woran es lag, an dieser verrückten Nacht, am Singen mit Wladi, oder daran, dass ich jetzt in diesem Auto saß. Ein Auto voller Kassetten, Zeitungen und Tabakkrümel. Niko zündete sich eine Zigarette an, Gauloises rot. Er rauchte nie was anderes. Und ich sang. Er sang auch. „Ich hab noch nie eine Frau getroffen, die Oasis hört und die „Live forever“ auswendig kann.“
„Ich hab auch noch nie einen Mann getroffen, der das kann.“
„Was studierst du?“
„Was?“
„Du bist doch sicher Studentin. Irgendwas mit Musik?“
Sein Blick war jetzt wieder offen und klar und ich dachte, es wäre so einfach. Ich müsste dieses Spiel nur mitspielen. bin 17.“
Er sagte nichts, noch war er lustig.
„Was hast du gesagt, ich hab dich nicht verstanden.“ Was war los mit mir, früher hatte ich oft gelogen, früher, als ob es ein früher gäbe.
„Ich studiere nicht, ich bin 17.“„17“, wiederholte er.
„Und wie alt bist du?“
„35.“
„35“, wiederholte ich jetzt. Ich sah einen Ring an seinem Finger. „Bist du verheiratet?“
„Ja und ich hab zwei Kinder“, sagte er jetzt in normalem Ton. Ich fragte mich, ob ich mir das doch alles eingebildet hatte, jemand hatte mir Ecstasy in den Drink gemischt, alles einer Berlindrogenfantasie entsprungen.
„Du kannst mich hier raus lassen.“
Er hielt an, obwohl man doch nicht einfach so mitten auf der Straße anhalten kann, auch nicht in Kreuzberg. Er verabschiedete sich nicht, reagierte nicht auf mein: „Mach´s gut, danke fürs Mitnehmen.“ Ich stand auf dem Kottbusser Damm, 7.Juli 1996.
Einfach laufen, dachte ich. Bewegung ist gut, dann verschwinden die Träume, die Illusionen, der ganze Scheiß, die Lügen vom Paradies. Hier ist nicht das Paradies, das ist Kreuzberg.
Ich bin 17 Jahre alt, was weiß ich vom Leben? Warum liegen 18 Jahre zwischen uns? Als hätte Gott einen Fehler gemacht und mich zu spät in die Welt geschickt und Niko zu früh.
Feiern - Kapitel 4
Kreuzberg ist ruhig, hatte Milosch gesagt, doch ich fand das gar nicht. Kreuzberg war laut, dreckig, und obwohl es wirklich ruhiger war als im Ostteil der Stadt, lag hier etwas Unkontrolliertes, Unkontrollierbares, das Angst machen konnte, aber auch Kraft und Energie gab. Hierher verirrte sich niemand aus dem Palace, kein Technokind aus der Provinz. Der Wrangelkiez ist gefährlich, sagte Milosch, die Oranienstraße ist gefährlich und doch fühlte ich mich nicht bedroht. Nur jetzt, an diesem Montag 12 Uhr mittags, machte mir Kreuzberg Angst. Der Strom an Menschen schien einfach nicht abzureißen. Ich lief immer schneller und versuchte nachzudenken, Gedanken zu ordnen, doch es ging nicht. Nur Stichworte, unzusammenhängend und wirr. Dann war ich auf einer Brücke, ließ mich mitreißen vom Strom zu einem Markt. Ich fand eine Telefonzelle. Milosch anrufen, dachte ich. Milosch und der Gedanke an ihn gaben mir Sicherheit. Ich sah ihn vor mir, Milosch wird eine Lösung haben, ich kann wieder sprechen, wenn ich ihn sehe.
Er war sofort dran. „Ich komm rüber, wir treffen uns im Wohnzimmer.“
Ich versuchte, mir irgendwie einen Weg zurück zu bahnen. Die Oranienstraße hochzulaufen. Und dann wieder Wohnzimmer. Judith und Felix, diese Namen hatte ich mir gemerkt. „Na, haste Wladi gefunden?“, fragte Judith. „Klar.“ Ich setzte mich. „Ist das immer so leer hier?“
Judith lachte. „Der Raum ist nur für Eingeweihte.“ „Milosch kam, stutzte kurz, als er Judith sah. „Milosch?“ „Ja“, sagte er überrascht. „Ich bin´s! Judith. Judith Lehmann!“ „Milosch zuckte zusammen, Judith umarmte den