Zerrissen. Andreas Osinski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Osinski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847689928
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sollte er noch einmal in diese Situation kommen. Warum konnten ihn die Bilder also nicht einfach in Frieden lassen? Warum konnte er das alles nicht einfach vergessen? Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte gar nicht anders handeln können. Es war der Preis, den er zu zahlen hatte. Vorsichtig drückte Klaus-Dieter Warbs die Stirn gegen das kühle Glas der Duschabtrennung. Er schloß die Augen. Die Entführer hatten bekommen, was sie verdienten und es war gerecht! Sie hatten ein Leben zerstört. Ein junges Leben, voller Träume und Pläne. Die Entführer mußten büßen. Büßen für das, was sie ihm und seiner Tochter angetan hatten. Sie waren es nicht mehr wert, ein eigenes Leben zu leben. Dieses Recht hatten sie verloren, verwirkt.Den einen der beiden Entführer hatten die Justizbehörden schon kurz nach der Freilassung seiner Tochter geschnappt und abgeurteilt. Zweieinhalb Jahre Gefängnis. Es war ihm eine Genugtuung gewesen, diesem verschlagenen Kerl im Gerichtssaal gegenüber zu sitzen. Obwohl eine Gefängnisstrafe für das, was man ihnen angetan hatte, wirklich nicht ausreichend war. Zweieinhalb Jahre, soviel war den Richtern das Leben seiner Tochter wert gewesen. Ganze neunhundert- zwölf Tage. Der andere Entführer, der Kopf der Bande, hatte sich rechtzeitig nach Canada abgesetzt, hatte versucht, sich seiner gerechten Strafe zu entziehen. Aber schließlich hatte es auch ihn erwischt. Zwei kurze Telefonate, mehr war nicht nötig gewesen. Er hatte die entsprechenden Verbindungen. Wenn er ehrlich war, traute er dem deutschen Rechtssystem nicht sonderlich über den Weg. Es gab zu viele Schlupflöcher. Ein zu großes Betätigungsfeld für karrieresüchtige Strafverteidiger, die immer auf der Lauer lagen, dem Gericht auch den noch so kleinsten Formfehler nachweisen zu können! Manchmal mußte man dem Recht daher ein wenig auf die Sprunge verhelfen, denn Justitia trug eine Augenbinde und war somit blind. Nein, er hatte richtig gehandelt, damals, ging es ihm durch den Kopf, als er die Augen wieder öffnete. Er war es schließlich gewohnt, weitreichende und schmerzliche Entscheidungen zu treffen. Die Entführer hatten bekommen, was sie verdienten! Und das war doch das Einzige, was wirklich zählte. Klaus-Dieter Warbs legte den Kopf wieder in den Nacken und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit der Polizei war nicht ernstlich zu rechnen gewesen, damals. Eine Meute satter und überbezahlter Staatsdiener, mehr nicht. Er hatte sich daher auch nicht einfach in etwas eingemischt. Etwas, was ihn eigentlich nichts anging. Die eingesetzten Polizisten hatten schon bei der Geldübergabe kläglich versagt und leichtfertig das Leben seiner Tochter aufs Spiel gesetzt. Sie waren ihm zur Geldübergabe gefolgt. Einfach so. Ohne Absprache, ohne ihn zu informieren. Die Entführer hatten ihn ganz offensichtlich beobachtet und seine Verfolger bemerkt, denn sie waren nicht erschienen. Erst Tage später hatten sie ihm telefonisch einen neuen Übergabeort mitgeteilt. Die Stunden bis zu diesem Telefonat waren eine Qual für Lisa und ihn gewesen. Diese Ungewißheit. Er hatte insgeheim schon das Schlimmste befürchtet. Von den neuen Übergabemodalitäten hatte er der Polizei vorsichtshalber nichts gesagt. Er hatte nicht mehr auch nur das kleinste Risiko eingehen wollen, das Geld wie gefordert in den Abfalleimer geworfen worauf sie Claudia noch am selben Tag freiließen. Wenn die Polizei schon nicht in der Lage war, einem Fahrzeug unauffällig zu folgen, wie sollte sie dann erst einen flüchtigen Entführer fassen. Ein Entführer der sich nach Canada abgesetzt hatte und dessen Spur sich auf dem Hamburger Flughafen verloren hatte. Wie hätte er solchen Leuten trauen können? Nein, er hatte eine Entscheidung gefällt und es war die richtige. Er hatte es selbst in die Hand nehmen müssen. Mit einer schnellen Handbewegung drehte Klaus-Dieter Warbs das Wasser der Dusche ab und langte mit einem gezielten Griff nach seinem Handtuch. Nie wieder würde er über diese ganze Entführungsgeschichte nachdenken, ging es ihm durch den Kopf, während er sein Gesicht trocknete. Er würde es schon noch in den Griff bekommen! Ein wenig benommen öffnete er die Tur der Duschkabine und trat vorsichtig auf die weiße Badematte. Nachdem er auch noch den Rest seines Körpers frottiert hatte, machte er zwei Schritte hinüber zum Waschbecken, um sich zu rasieren. Mit einer langsamen Bewegung wischte Klaus-Dieter Warbs mit dem Handrücken über den noch beschlagenen Spiegel, griff dann nach seinem elektrischen Rasierapparat und versenkte den flachen Stecker in der Steckdose neben der Ablage. Normalerweise bevorzugte er eine Naßrasur, jedoch war ihn heute morgen nicht danach. Fur eine Naßrasur brauchte er Ruhe. Ruhe und Ausgeglichenheit. Beides hatte er heute nicht.Er nahm die dunkelblaue Flasche After Shave aus der Ablage, schüttelte ein paar Tropfen in seine linke Handfläche und klatschte diese mit einem gezielten Schwung auf seine Wangen. Ein leichtes Brennen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er den goldenen Verschluß wieder auf die Flasche schraubte. Nachdem er das kurze Haar mit wenigen gezielten Strichen einer Bürste in eine abschließende Ordnung gebracht hatte, ging er wieder hinüber ins Schlafzimmer, um sich anzukleiden. Lisa schlief noch immer tief und fest. Sie lag jetzt auf der linken Seite, die Bettdecke bis fast zu den Ohren hochgezogen. Lautlos huschte er an ihr vorüber und öffnete vorsichtig die Türen des begehbaren Kleiderschrankes. Er wählte einen dunkelgrauen, weitgeschnittenen Flanellanzug mit Weste. Ein Zweireiher, der ihm eine gewisse seriöse Note verlieh, ohne jedoch seiner Sportlichkeit und Lässigkeit -auf die er soviel Wert legte- Abbruch zu tun. Klaus-Dieter Warbs nahm ein schlichtweißes Button-down Hemd vom Bügel, zog ein frisches Taschentuch vom Stapel im Fach direkt vor ihm und kramte dann eine mintfarbene Seidenkrawatte aus dem Regal darüber. Zwar besaß er auch eine Menge gemusterter Binder -meist Verlegenheitsgeschenke seiner Schwiegermutter- jedoch konnte er diese gestreiften „Allerweltsdinger“ nicht sonderlich leiden und vermied es sie zu tragen, so oft es eben ging. Es war völlig legitim und ausreichend, solche Krawatten nur zu Weihnachten oder an Schwiegermutters Geburtstag zu tragen, ging es ihm durch den Kopf, während er angestrengt nach einem Paar passender Socken suchte. Lisa hatte offensichtlich wieder einmal in seinen Schrank herumgeräumt. Es war kurz vor sieben, als Klaus-Dieter Warbs sich angekleidet hatte und die geschwungene Holztreppe hinunterstieg, um ein wenig zu frühstücken. Sie bereiteten sich das Frühstück und auch die anderen Mahlzeiten jeden Tag selbst zu, denn Lisa und er hatten bewußt auf Personal verzichtet. Es war ihnen lieber, so zurückgezogen und unauffällig zu leben wie nur irgend möglich. Ein Leben in Ruhe und Abgeschiedenheit, fast einsam. Seine Position hatte ihn angreifbar und verletzlich gemacht, da mußte man schon darauf achten, mit wem man sich umgab. Und sie hatten sich auch nicht unnötig der Gefahr von gezielten Indiskretionen geschwätzigen Personals aussetzen wollen. Diese Geschichten, die man üblicherweise schon am nächsten Morgen im hiesigen Boulevardblatt lesen konnte. Reißerisch aufgemacht, aber ansonsten inhaltsleer! Das Einzige, was sie sich an Personal leisteten war Herr Petersen. Der Gärtner, der sich in regelmäßigen Abstanden um die Anlagen kümmerte. Mehr Personal brauchten sie nicht. Klaus-Dieter Warbs ging hinüber in die Küche, zog einen mittleren Frühstücksteller aus dem Schrank, nahm einen Kaffeebecher vom Haken unterhalb des Hochschrankes und stellte beides auf den kleinen Holztisch vor dem Fenster. Auf dem Rückweg drückte er auf den roten Schalter der Kaffeemaschine, nachdem er zuvor ein wenig Wasser und Kaffeepulver hineingefüllt hatte. Normalerweise bevorzugte er Tee, doch hatte er es sich in den letzten Monaten zur Gewohnheit gemacht, morgens Kaffee zu nehmen. Nur so konnte er sicher sein, auch wirklich den allerletzten Rest Müdigkeit für immer und ewig aus seinem Körper vertrieben zu haben.Als das periodische Gurgeln und Röcheln der Kaffeemaschine begann, lud er eine Scheibe Weißbrot in den Toaster, nahm Honig und Butter aus dem Kühlschrank und stellte beides neben dem Frühstücksteller ab. Mit einer fließenden Handbewegung schob er die Gardine des Küchenfensters ein Stück zur Seite, verschränkte dann die Arme vor der Brust und blickte flüchtig nach draußen. Es dauerte nur einen kleinen Moment, bis das Brot mit einem harten und sprungfederartigen Geräusch goldbraun aus dem Toaster sprang. Er schnappte es es sich kurzerhand mit zwei Fingern und setzte sich an den Tisch. Klaus-Dieter Warbs blickte gedankenverloren durch das Fenster in den Vorgarten hinaus und er ertappte sich dabei, wie er das beschlagene Honigglas fortwährend auf dem Rand hin und her kippte. Er hatte seine Tochter eigentlich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, ging es ihm ein wenig wehmütig durch den Kopf. Es war bestimmt schon ein Jahr her, seit Claudia von Bayern zu ihnen heraufgekommen war. Zwar hatten sie seit der Entführung die Weihnachtsfeste und auch noch ein paar andere Feiertage zusammen verbracht, aber richtig miteinander reden können, hatten sie nicht. Er konnte sich jedenfalls nicht entsinnen. Entweder hatte er dringende geschäftliche Termine gehabt oder Claudia mußte zurück nach München. Es ergab sich einfach nicht. Das Verhältnis zwischen ihnen hatte gelitten. Es war nicht mehr so, wie es vor der Entführung zwischen ihnen gewesen war. Und Claudia hatte sich verändert. Zu ihrem Nachteil. Sie war zwar auf der einen Seite selbstbewußter geworden, hatte auf der anderen Seite aber ihr Ziel aus den Augen verloren. Diese Entführung hatte sie aus der Bahn geworfen,