Zerrissen. Andreas Osinski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Osinski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847689928
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was genau der Auslöser hierfür gewesen sein könnte. Er wußte nur, daß es einfach passiert war. Langsam, heimlich und ganz schleichend. Klaus-Dieter Warbs schüttelte ungläubig den Kopf und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Claudia hatte damals nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt ihre Zelte im Norden abgebrochen und war nach München gegangen. Um Chemie zu studieren, wie sie behauptet hatte. Er hatte sie gehen lassen, obgleich er ihr daß mit dem Studium keinen Moment abgekauft hatte. Eigentlich wußte er nicht genau, was sie dort eigentlich tat. Studieren jedenfalls nicht mehr, soviel hatte er mittlerweile in Erfahrung bringen können. Das Einzige, was er sicher wußte war, daß seine Tochter dort in einer Wohngemeinschaft lebte. Lisa besuchte sie dort regelmäßig. Er hatte bislang nicht die Zeit dazu gefunden. Seine Frau hatte zwar immer wieder versucht, ihn zu beruhigen. „Mach dir keine Sorgen, Claudia kriegt die Kurve wieder. Laß ihr einfach ein bißchen Zeit!“ hatte sie zu ihm gesagt. Aber er glaubte nicht mehr daran. Es war schon zu lange her, um noch Resultate zu erwarten. Und Resultate waren doch das Einzige, was im Leben wirklich zählte. Er würde sich mehr um seine Tochter kümmern, ging es ihm durch den Kopf, während er sich langsam erhob und mit dem Becher in der Rechten zur Kaffeemaschine hinüberging. Er würde sich die Zeit dafür nehmen! Klaus-Dieter Warbs zog die gläserne Kanne unter der Maschine hervor und füllte seinen Becher mit der braunen Flüssigkeit. Dann drehte er sich um, lehnte den Rücken gegen die Oberkante des Unterschrankes und nahm einen kräftigen Schluck des wohlduftenden Kaffees. Er würde wieder die Zügel in die Hand nehmen, denn Claudia durfte ihr kostbares Leben nicht so einfach vergeuden. Es war seine Aufgabe als Vater, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, wenn sie es aus eigener Kraft schon nicht schaffte. Mütter waren dazu da, ihren Kindern Liebe und Verständnis entgegenzubringen. Väter waren hingegen für Strenge, Disziplin und das Aufzeigen von Grenzen verantwortlich. Väter waren der Gegenpol und das war gut so. Er war auch mit Strenge und Härte erzogen worden und geschadet hatte es ihm nicht. Ab jetzt würde er sich wieder mehr um seine Tochter kümmern, nahm er sich fest vor, während er wieder zum Tisch hinüberging und nach draußen blickte. Vielleicht würden sie einen neuen Anfang machen können. Die Zeit einfach zurückdrehen. Dort anfangen, wo sie vor sieben Jahren aufgehört hatten. Es konnte doch noch nicht zu spät sein. Gleich eines der nächsten Wochenenden würde er zusammen mit Lisa nach München fliegen. Vielleicht könnte er sich auf die Schnelle ein paar Tage freimachen. Es mußte schließlich auch mal ohne ihn gehen, im Büro. Außerdem war da ja noch Frau Busch, die auch gut Bescheid wußte. Eine leichte Unruhe ergriff Besitz von seinem Körper, als Klaus-Dieter Warbs sich wieder an den Tisch setzte und den Blick durch das Küchenfenster nach draußen lenkte. Mit einen schnellen Bewegung seiner rechten schob er den Frühstücksteller mit dem erkalteten Toast an den Rand des Tisches. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Appetit. Es war ein ruhiger Morgen. Nichts Außergewöhnliches, keinerlei Bewegung. Da war nichts, was seine ungeteilte Aufmerksamkeit verdient hätte. Die Dunkelheit war fast gewichen und das Grau des herannahenden Morgens breitete sich langsam in seinem Vorgarten aus. Und es kam ihm so vor, als konnte er förmlich sehen, wie die Helligkeit von Moment zu Moment zunahm. Fast so, als betrachtete man einen Filmschnipsel um dabei festzustellen, wie sich ein winziges Detail von Bild zu Bild veränderte. Sein Blick streifte die hell schimmernden Gehwegplatten, die zum Eingangs- bereich seines Anwesens führten. Dunkel und mächtig hob sich das tiefe Schwarz des Eingangstores von der übrigen Umgebung ab. Es war nur eine Nuance, um die sich das Dunkel des Tores von dem übrigen Grau abzeichnete. Durch die geschmiedeten Stäbe des linken Flügels hindurch konnte er den Schattenriß eines dunklen Wagens ausmachen, der auf dem Seitenstreifen der anderen Straßenseite parkte.Die noch nicht ganz gewichene Dunkelheit und der leichte Bodennebel tauchten die Szenerie in ein gespenstisch trübes Licht und verhießen den Beginn eines wundervoll sonnigen Tages. Der Himmel hatte im Osten eine glutrote Färbung angenommen und ließ die vereinzelt vorbeiziehenden Wolken vor dieser Kulisse noch dunkler und gefährlicher aussehen. Fast so, als ob ein Gewitter herannahte. Klaus-Dieter Warbs blickte auf seine Armbanduhr. Es wurde langsam Zeit für ihn. Gerade als er im Begriff war, sich von seinem Stuhl zu erheben, erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Er schob den Oberkörper ein paar Zentimeter nach vorn und blickte angespannt in den Vorgarten. Es war ein kleiner Feuerschein, der plötzlich in dem abgestellten Wagen auf der anderen Straßenseite aufgeflammt war und der nun zu ihm herüberschien. Klaus-Dieter Warbs kniff die Augen zusammen und legte den Kopf leicht zur Seite. Das Leder des Küchenstuhles verursachte ein knarrendes Geräusch, als er sich auf seinem Sitz noch weiter nach vorn beugte. Im fahlen Licht des Feuerscheins erkannte er für einen kurzen Moment die Silhoutte eines Gesichts. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Danach erlosch der Feuerschein abrupt und hinterließ einen winzigen hellen Punkt auf dem Dunkel der Frontscheibe. Ganz offenbar saß dort jemand in dem abgestellten Wagen, ging es ihm durch den Kopf, während er sich wieder zurücklehnte. Jemand, der vielleicht auf etwas wartete und der sich nur gerade eine Zigarette angesteckt hatte. Also nichts Besonderes.Klaus-Dieter Warbs erhob sich schwungvoll von seinem Stuhl, schob diesen akkurat an den Tisch und stellte das Geschirr auf die Spüle. Er knipste die Kaffeemaschine aus und trat schließlich in den langen Flur hinaus, der sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte. Leise zog er die Küchentür mit der rechten ins Schloß, während er mit der anderen Hand den hellen Trenchcoat von der Garderobe angelte. Er ergriff den dunkelbraunen Aktenkoffer mit den silbernen Beschlägen, den er -wie jeden Abend- in der Nische zwischen Garderobe und Schirmständer bereit gestellt hatte und legte den Mantel halb über seinen Arm, halb über den Koffer. Er ging nach links zur Eingangstür und blieb dort auf dem Absatz stehen. Prüfend warf er einen kurzen Blick in den goldgefaßten Kristallspiegel, der sich zu seiner rechten befand. Nachdem er den Sitz seiner Krawatte ein wenig korrigiert hatte, ergriff er die schwere Klinke der Eingangstür und drückte sie kraftvoll hinunter. Gerade als er im Begriff war, das Haus endgültig zu verlassen, schoß es ihm siedendheiß durch den Kopf. Er hätte es beinahe vergessen! Klaus-Dieter Warbs drehte sich kurzentschlossen um, stellte den Aktenkoffer in die geöffnete Eingangstür und legte den Trenchcoat auf die antike Anrichte vor dem Spiegel. Mit schnellen Schritten rannte er in sein Arbeitszimmer hinauf. Er hätte es wirklich fast vergessen! Lisa hatte sich heute mit ein paar Freundinnen in der Stadt zum Frühstück verabredet. Das hatte sie ihm gestern Abend noch kurz erzählt. Zwischen Tür und Angel. Er würde sie telefonisch heute also nicht erreichen können, da die Damen im Anschluß üblicherweise noch einen Shopping-Bummel unternahmen. Hastig öffnete Klaus-Dieter Warbs die mittlere Schublade seines wuchtigen Schreibtisches und kramte einen Notizblock hervor. Und noch ein wenig außen Atem griff er mit seiner Rechten in die Innentasche des Sakkos und zog einen goldenen Füllfederhalter heraus. Ein Geschenk von Lisa. Zum ersten Hochzeitstag. Gerade als er damit begonnen hatte, die Kappe des Federhalters abzuschrauben, zerriß ein lautes und durchdringendes Quietschen die morgendliche Stille. Das sägende Geräusch drang durch die geöffnete Eingangstür zu ihm herauf. Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht zu einer häßlichen Grimasse und schüttelte verständnislos den Kopf. Klaus-Dieter Warbs kniff die Augen zusammen, bis diese nur noch als schmale Streifen zu erkennen waren.Wann endlich würde sein Nachbar diese verdammte Gartenpforte ölen, ging es ihm durch den Kopf, während er die folgenden Zeilen niederschrieb:

       Guten Morgen, meine Schöne!

       Ich hoffe, Du hast gut geschlafen und etwas Nettes geträumt. Ich werde heute Mittag leider nicht nach Hause kommen können. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn wir gemeinsam in der Stadt zu Mittag essen könnten.

       Ruf mich bitte im Büro an!

       Klaus-Dieter

       P.SWas hältst Du davon, wenn wir Claudia bald in München besuchen würden?

      Kapitel 3

      Wenn ich geahnt hätte, auf was für eine Sache ich mich an diesem Abend noch einlassen würde, wäre ich mit Sicherheit nicht noch einmal ins Büro gefahren. Ich hätte meine charmante Begleiterin einfach irgendwann nach Hause gefahren, hätte sie dann vor ihrer Wohnungstür mit einem Augenzwinkern um den obligatorischen Kaffee in ihrem Appartment gebeten und wäre am nächsten Morgen wieder einmal aus einer anderen Richtung ins Büro gefahren. Aber es sollte anders kommen. Ich sollte noch heute Abend einen Fall übernehmen, der Mitleid erregen würde. Und zwar mein Mitleid. Und das war nicht gut. Denn man