Zerrissen. Andreas Osinski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Osinski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847689928
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Es hatte eindeutig nach einer Auftragsangelegenheit ausgesehen. Er hatte genug Zeit gehabt, sich im Gefängnis darüber zu informieren, sich mit dieser Sache zu beschäftigen. Und er hatte auch die entsprechenden Leute kennengelernt. Freunde, die ihm freimütig und voller Stolz erzählt hatten, was zu tun war, wenn man jemanden beiseite schaffen wollte. In jeder größeren Stadt gab es Typen, die über gewisse Kontakte ins Millieu verfügten und die die richtigen Verbindungen herstellen konnten. Man mußte nur oft genug und an richtiger Stelle erwähnen, daß man da ein gewisses Problem hatte. Natürlich alles hinter vorgehaltener Hand. Die Verbindung zwischen Auftraggeber und Killer wurde dann über diese Kontaktperson hergestellt. Irgend jemand kannte jemanden, der wiederum jemanden kannte, von dem man gehört hatte, daß er jemanden kannte, der solche Probleme schnell und sauber aus der Welt schaffen konnte. In den meisten Fällen wurde eine Person aus dem Ausland rekrutiert. Jemand, der -sagen wir mal für fünfundzwanzigtausend plus Spesen- bereit war, ins Land zu kommen und den Job zu erledigen. Für die Vermittlung des Killers waren dann noch einmal ein paar Hunderter erforderlich, wenn einem die Kontaktperson nicht noch einen Gefallen schuldig war. Die Hälfte des Geldes war sofort fällig, die andere Hälfte nach erfolgreicher Erledigung des Jobs. Der Preis hing von verschiedenen Faktoren ab. Die Beseitigung einer Person des öffentlichen Lebens, womöglich noch durch Leibwächter ständig bewacht, war teurer als die der eigenen Ehefrau. Die konnte man schon für fünftausend aus dem Weg räumen lassen. Sauber und diskret! Und fast günstiger als eine Scheidung. Die Planung des Jobs selbst erfolgte vom sicheren Ausland aus, soweit dies möglich war. Ein neueres Foto und eine handvoll Daten reichten aus. Dazu Informationen über bestimmte wiederkehrende Gewohnheiten, bevorzugte Restaurants, Hobbies und familiäre Verhältnisse. Der Killer kam ins Land, erledigte schnell und profesionell seinen Job und saß, noch ehe die Leiche richtig kalt war, schon wieder im Flieger. Business-class, versteht sich! Der Auftraggeber blieb im Hintergrund und behielt eine weiße Weste. Es gab keinerlei direkte Verbindung zwischen Auftraggeber und Killer. Oftmals kannten sie sich überhaupt nicht. Saubere Sache! Den Killer seines Bruders hatte man nie geschnappt. Er selbst hatte nicht die leisete Ahnung, wer und vor allen Dingen w a r u m jemand Theo hatte aus dem Weg räumen lassen. Gut, sie hatten einige Dinger am laufen gehabt, damals, und sie waren auch recht erfolgreich gewesen, für ihre Verhältnisse. Aber sie konnten doch niemanden so sehr auf die Füße getreten sein, als daß es einen Mordauftrag rechtfertigen konnte. Und warum nur Theo? Warum dann nicht auch er?War es etwa sein Glück, daß er sich bereits im Gefängnis befand, als Theo umgebracht wurde? Hatte das vielleicht sein Leben gerettet? Wäre er sonst auch dran gewesen? Aber auch im Gefängnis konnte man jemanden umbringen lassen, hatte man ihm erzählt. Gezahlt wurde einfach später. Oder die Ehefrau erhielt das Geld, um sich und die Kinder über Wasser halten zu können. Und vielleicht wäre es sogar besser gewesen, der Killer hätte auch noch ihn umgebracht! Seine neuen Freunde im Gefängnis hatten ihre Kontakte nach draußen genutzt und in der Szene ein bißchen herumhorchen lassen. Aber niemand wußte etwas. Keiner hatte etwas gehört. Möglicherweise war es ein Außenstehender, der den Mordauftrag damals erteilt hatte. Der bärtige Mann schüttelte ungläubig den Kopf und blickte wieder hinüber zum Hauseingang. Nichts hatte sich verändert. Alles ruhig. Die Zeit schien still zustehen! Zielstrebig aber mit leicht zitterigen Fingern bewegte er die rechte Hand in Richtung Autoradio, umfaßte dort den linken Knopf mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger und drehte ihn so weit nach rechts, bis er einen Widerstand verspürte. Ein mechanisches Klicken drang an sein Ohr, als er über diesen Widerstand hinaus noch weiter nach rechts drehte. Vergleichbar mit dem Geräusch, das der Sicherungshebel einer Pistole verursacht, wenn man ihn umlegt. Dann folgte Rauschen. Ein durchdringendes und alles erstickendes Rauschen. Vorsichtig drehte der Mann den rechten Knopf des Radios, bis das Rauschen zugunsten einer sympathisch klingenden weiblichen Stimme schließlich aufgab. Es schien ihm ein Kampf zu sein. Ein Kampf zwischen kalter, von Menschenhand geschaffener Tontechnik und menschlicher Nähe. Ein Kampf, bei dem er ausnahmsweise einmal nicht direkter Beteiligter, sondern Schiedsrichter war. Drehte er den Knopf des Radios auch nur leicht nach links, so wurde die Stimme leiser, um schließlich ganz und gar in dem farblosen Rauschen unterzugehen. Drehte er ihn nach rechts, so untermalte die Stimme das Rauschen. Zuerst schwach und kaum verständlich, dann deutlich und dominant.Er war es, der die Fäden in der Hand hielt. Er konnte das Geschehen nach seinem Willen ablaufen lassen, konnte es beeinflussen und es auch beenden, wenn ihm danach war. Einfach so.Mit einer langsamen Bewegung beugte sich der bärtige Mann wieder vor, griff in die verkratzte Mittelkonsole und fingerte eine neue Zigarette aus der angebrochenen Marlboroschachtel. Entspannt lehnte er sich in den Sitz zurück, nachdem der erste tiefe Zug die Lungenflügel passiert hatte. Er schloß die Augen. Alles war genauestens geplant. Das Versteck für Klaus-Dieter Warbs war hergerichtet und der Übergabeort für das Lösegeld nach tagelanger Überlegung auch gefunden. Beides waren ihre Ideen gewesen. Sie wußte, wie man an den Schlüssel für die Gewerbehalle gelangen konnte und sie hatte auch den genialen Einfall für die Übergabe des Lösegeldes. Zuerst hatten sie überlegt, ob Lisa Warbs die Koffer mit dem Geld nicht einfach von einer Brücke werfen sollte. Sie hätten unter dieser Brücke gewartet, das Geld in den Kombi geladen und wären dann einfach verschwunden. Aber er hatte Bedenken gehabt. Denn was wäre gewesen, wenn einer der Koffer plötzlich aufgesprungen wäre? Es war ihm zu unsicher. Sie hatten dann noch eine paar andere Varianten durchgespielt, bis ihr plötzlich der Einfall mit der Fähre gekommen war. Der Mann nahm einen tiefen Zug der Marlboro und blies den Rauch leicht angewidert und mit einem heftigen Hustenanfall aus.Der Mietwagen stand bereit und die drei Flüge nach Toronto waren gebucht. Für Freitag. Ein Flug für die Morgenmaschine, zwei Flüge für die Abendmaschine. Am nächsten Tag würden sich sich alle in der Lodge treffen. Bei einem guten Glas Wein. Oder einer Dose Bier. Ein Umtausch des Geldes wie bei der ersten Entführung war nicht erforderlich, hatten sie entschieden. Damals war sein Bruder davon ausgegangen, daß das Lösegeld vielleicht präpariert sein würde. Theo hatte einfach auf Nummer Sicher gehen wollen. Aber es war nicht der Fall. Von dem eigentlichen Lösegeld war ihnen damals nur gut ein Viertel geblieben. Nicht gerade sehr viel! Diesmal hatten sie auf einen Umtausch verzichtet. Sie hatten darauf vertraut, daß das Lösegeld in Ordnung sein würde und sie vertrauten darauf, daß Lisa Warbs das Leben ihres Mannes nicht leichtfertig auf`s Spiel setzen würde. Die Zigarette zwischen den Lippen schmeckte nicht sonderlich. Er hatte zuviel geraucht, in den letzten paar Tagen. Aber es hatte ihn beruhigt. Der Zigarettenqualm stieg ihm ins Gesicht und brannte in den Augen. Unweigerlich mußte er blinzeln und das linke Auge begann zu tränen. Mit einer mechanischen Handbewegung zog der Mann die halbgerauchte Zigarette aus dem Mundwinkel und drückte sie in den randvollen Aschenbecher unter dem Autoradio.Dann blickte er wieder nach draußen und tastete die Gegend ab, während er mit der linken Hand das Seitenfenster des Wagens eine Spalt herunterkurbelte. Ein wenig Sauerstoff würde ihm jetzt guttun. Als sein Blick den Hauseingang streifte, bemerkte er, daß sich irgendetwas verändert hatte. Ein winziges Detail nur. Es war zunächst nur eine Ahnung, nur so ein unbestimmtes Gefühl. Aber etwas war nicht mehr so, wie es vorher war. Noch war ihm nicht bewußt, was es war. Aber er wußte, daß es da war und daß es nicht in das bisherige Szenario des Hauseingangs paßte. Der Mann versuchte, das Blinzeln zu unterdrücken und die Augen weit aufzureißen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Und es dauerte auch nur den Bruchteil einer Sekunde, bis er erkannt hatte, was ihn so irritierte. Es war die Eingangstür. Sie stand offen. Einen winzigen Spalt nur. Leicht zu übersehen! Gerade soviel, wie man eine Eingangstür vielleicht offenstehen läßt, wenn man kurz vor dem endgültigen Verlassen bemerkt, daß man trotz aller menschlichen Vorausplanungen doch noch etwas vergessen hatte und man glaubte, daß es sich einfach nicht mehr lohne, die Tür nur aus diesem Grund nochmals zu schließen! Aber wenn die Eingangstür geöffnet war, mußte sein Opfer die Alarmanlage bereits abgeschaltet haben, schoß es ihm siedendheiß durch den Kopf! Dann würde er auch das schwarze Eingangstor öffnen und auf das Grundstück gelangen können! Er schluckte mehrmals. Sollte er den Plan einfach abändern und nicht darauf warten, bis Klaus-Dieter Warbs das Anwesen mit dem Wagen verließ? Sollte er einfach hinübergehen und ihn schon jetzt in Empfang nehmen? Einfach so? Sein Herz schlug schnell und er überlegte fieberhaft. Er mußte es jetzt entscheiden. Hier und jetzt und ohne ihre Hilfe! „Denk nach, denk nach!“ entfuhr es ihm laut. Auf jeden Fall war es sicherer, Klaus-Dieter Warbs nicht auf offener Straße abzufangen. Auf dem Grundstück gab es ein paar gute Möglichkeiten, sich zu verstecken. Er konnte sein Opfer einfach überraschen. Von hinten! Keine unnötige Konfrontation. Kein überflüssiger Blickkontakt! Außerdem