Da vernahm er laute, hektische Stimmen und Werkzeug-geräusche, als wolle jemand das Schloss der Zauntür aufbrechen oder die Tür aushebeln.
Markus und Dux verfolgten, nach wie vor im Dunkeln ausharrend, das Geschehen draußen. Während Markus ganz vorsichtig die für diese Fälle versteckt bereitstehende Axt herbeiholte, stand Dux in Lauerstellung erneut vor der Außentür des Aufenthaltsraumes. Als am Zaun Ruhe eintrat, näherten sich in einer
fremden Sprache aufgeregt miteinander diskutierend, zwei finstere Gestalten der Sternwarte. Mit Taschenlampen leuchteten sie das Objekt der Begierde ab.
Als sie dann vor der gut gesicherten Eingangstür der Sternwarte standen und im Begriff waren, diese mit einem schweren Vorschlaghammer einzuschlagen, gab es für Dux keinen Halt mehr – Er durchdrang in Zeitlupe die vor ihm befindliche Tür, überquerte den Hausflur und schoss wie ein hungriger, gefräßiger Wolf durch die Eingangstür ins Freie, wobei er die zu Tode erschrockenen Einbrecher umriss. Diese fielen rücklings in den Schnee, rappelten sich mühselig wieder auf und suchten das Weite – gehetzt von Dux mit seinen teuflisch roten Augen.
Derweil der Hund die Diebe in die Flucht schlug, schaltete Markus das Licht ein und entfachte im Ofen das Feuer.
Kurz darauf kam Dux abgehetzt zurück. Er japste und war voller Schnee. Seine Augen leuchteten nun nicht mehr.
„Schüttele dich, damit der Schnee abfällt!“, befahl Markus und er tat es, bis sein Fell schneefrei war.
Im beheizten Aufenthaltsraum nahm Dux, alle Viere von sich streckend, auf seinem Teppich Platz, den Markus zuvor auf dem Sofa ausgebreitet hatte.
Er setzte sich zu Dux, nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an die Brust. Wie bei einem Kind bedankte er sich:
„Das hast du fein gemacht; ich bin stolz auf dich!“
Dux streckte seine Zunge heraus und leckte ihn im Gesicht.
„Zum Beobachten bin ich nach der Aufregung nicht mehr in der Lage“, sprach Markus zu sich selbst und bereitete für beide eine Nachtmahlzeit vor. In diesem Moment klingelte auch der Wecker. Als sie sich gestärkt hatten und das durchnässte Fell von Dux trocken war, legte sich der Hund wieder unter den Tisch; denn das Liegesofa wurde von Markus in Beschlag genommen.
Während Dux, sein treuer Gefährte, bald schlief, lag Markus sehr lange wach und grübelte:
„Dieser Schäferhund ist kein gewöhnliches Tier. – Er kann, wie die kleinen, grauen Alien, geschlossene Türen durch-dringen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und unter Anspannung glühen seine Augen wie flüssiges Magma.
Dux scheint jedes Wort zu verstehen. Wie das möglich ist, bleibt mir ein Rätsel.
Nach wenigen Tagen des Zusammenseins habe ich den Verdacht, dass Dux meine Handlungen begreifen kann und auch meine Gefühle wahrnimmt.“
Nachdem Markus den Schaden an der Zauntür behoben hatte, verließen sie gegen Mittag die Sternwarte.
Markus begann das neue Jahr mit gemischten Gefühlen: Es deutete alles darauf hin, ein Schicksalsjahr zu werden. Fremde Mächte, denen er hilflos ausgeliefert war, bestimmten über ihn. Er vermied es, Pläne für die Zukunft zu schmieden. – „Hatte er eine Zukunft und wie würde sie aussehen?“ Fragen über Fragen. Markus lebte auf Abruf, mehr oder weniger in den Tag hinein, so, wie ein Mensch, der an einer unheilbaren, tödlichen Krankheit leidet …
Im Januar zeigte sich der Winter von seiner unangenehmen Seite. Es stürmte und schneite tagelang ununterbrochen – ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür lassen würde.
Markus und Dux machten es sich deshalb in der kleinen, gut beheizten, Junggesellenwohnung gemütlich.
Markus, ein ausgesprochener Langschläfer, der erst abends richtig munter wurde, verbrachte die meiste Zeit vor dem Fernseher und verfolgte aufmerksam das Zeitgeschehen. Sein vierbeiniger Freund und Begleiter Dux leistete ihm dabei Gesellschaft.
Wenn er früher in der dunklen Jahreszeit allein war und ihn Depressionen plagten, versuchte er, sie zu überwinden, indem er den Alkohol zuneigte und die Abende in der Dorfkneipe verbrachte.
Das war jetzt anders.
Markus erledigte mit Freude die übliche Hausarbeit und hörte nebenbei Radio. Auch konnte er stundenlang Zeitung lesen. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Lokalteil der Tageszeitung, für den er in jungen Jahren selbst einmal geschrieben hatte. Ihn interessierte, was in seiner Heimat – dem Eichsfeld, einem Landstrich zwischen dem Harz, Thüringer Wald und Meißner tagtäglich passierte. Obwohl er seit Jahren zurückgezogen in seiner eigenen Welt lebte, war er keineswegs weltfremd, wie viele Dorfbewohner glaubten.
Spätabends, Dux war längst auf „seiner“ gut gepolsterten Schlafcouch eingeschlafen, wurde im Fernsehen eine Dokumentation über den Bau der Berliner Mauer gezeigt.
In Markus wurden unwillkürlich Erinnerungen an die Zeit vor dem Mauerbau wach, die er als Heranwachsender selbst miterlebt hatte: Dem Grundschulbesuch im Ort folgte die weiterführende Mittelschule in der nahe gelegenen Kreisstadt Heiligenstadt. Er fuhr in der 10. Klasse täglich mit dem Bus zur Schule. Als Fahrschüler war er unabhängig und nach Erledigung seiner Schulaufgaben frei wie ein Vogel.
Weil der Bus wegen der Arbeitszeit der Arbeiter und Angestellten erst spät zurückfuhr, begann er, bei schönem Wetter über den Höhenzug des Iberges nach Hause zu wandern. Dabei erkundete er das ausgedehnte Waldgebiet auch abseits der Wege. Bald kannte er den Stadtwald besser als die einheimischen Städter. Nach einer Stunde Fußmarsch endete der dichte, Schutz bietende Buchenwald. Vor ihm lag das weite Luttertal: Der Heimatort im Süden, die bewaldeten Muschel-kalk-Steilhänge des Lengenbergs im Südwesten und dort, wo die Sonne untergeht, der aus der Landschaft herausragende Kegel des Rustebergs, jenseits des Leinetals.
Wenn er einen romantischen Sonnenuntergang erleben durfte, packte ihn das Fernweh. Am liebsten würde er dorthin gehen, wo das „gelobte Land“ begann – doch die Grenze schien unüberwindbar.
Als den Schulabgängern nach zwei Jahren angestrengten Lernens das Zeugnis der Mittleren Reife vom Direktor der Schule feierlich überreicht wurde, fehlte der Klassenlehrer.
Er war in den Westen gegangen …
In den langen Sommerferien hatte sich Markus mit dem etwas jüngeren Nachbarjungen David angefreundet, einem begeisterten Fußballspieler und talentierten Torwart. David war groß und schlank, hatte kurze, pechschwarze Haare, braune Augen und war stets zu Streichen aufgelegt. Wenn sie nicht auf dem Sportplatz Fußball spielten, halfen sie den Nachbarn bei der Feldarbeit oder sie durchstreiften stundenlang die nahen Wälder, Berge, Täler und Feldfluren. So lernten sie jeden Weg in der Umgebung kennen. Von seinen kümmerlichen Ersparnissen hatte er sich ein Luftdruckgewehr
zugelegt und lag an manchen Tagen von früh bis spät auf der Lauer, um Spatzen zu schießen. Es gab sie so zahlreich, dass die Bauern von einer Spatzenplage sprachen.
Anfang September begann ein neuer Lebensabschnitt. Er begann ein dreijähriges Studium am Eisenacher Institut für Lehrerbildung.
Von dem Geld, das ihm seine Eltern zugesteckt hatten, kaufte er ein kleines, transportables, astronomisches Fernrohr. Mit dem im Garten aufgestellten Fernrohr beobachtete er in den Ferien den Mond und die Planeten. Schon in diesem schwach vergrößernden Refraktor waren auf der Mondoberfläche sehr viele interessante Krater, Gebirge, Täler und flache, weite Ebenen, die „Mondmeere“ zu erkennen. Zu Beginn des zweiten Studienjahres brach er das Studium ab.
Seine Eltern waren entsetzt, aber es half nichts – es gab kein Zurück. Nun stand er mit leeren Händen da – keine Studium, keine Lehre und keine Arbeit.
Wenige Monate später ergab sich die Gelegenheit, als ungelernte Kraft bei einer Bank in der Stadt angestellt zu werden, die er auch nutzte.
Im Frühjahr des folgenden Jahres setzte er die Tradition aus der Mittelschulzeit fort und wanderte,