Zuerst war Markus tief traurig, als er wieder allein in seinem Fernsehsessel saß und geistesabwesend in die „Glotze“ schaute. Doch je länger er über das ihm Bevorstehende nachdachte, desto mehr reizte ihn das Ungewisse. – Die Aussicht, in seinem Alter noch
eine andere Welt, fremdartige, intelligente Wesen und vielleicht auch Menschen kennen zu lernen, die ihr Schicksal mit ihm teilen, anstatt senil im Altersheim zu enden …
Der Heiligabend war für Markus, wie für alle Alleinstehenden, ob jung oder alt, immer der einsamste Tag des ganzen Jahres.
Während die Kinder in den Familien erwartungsvoll der Bescherung unter dem geschmückten Weihnachtsbaum entgegen fieberten, hatte Markus nicht einmal einen Tannenbaum aufgestellt. Er sah keinen Grund, sich auf das Weihnachtsfest zu freuen.
Weil das Wetter mitspielte, wollte er den Heiligabend in der Sternwarte verbringen und machte sich, reichlich mit Proviant versorgt, auf den Weg zu seinem zweiten Domizil. Als dieSpringmühle hinter ihm lag, fielen vereinzelt die ersten Schneeflocken vom Himmel …
Markus liebte es, bei Schneefall unterwegs zu sein; denn er empfand dieses Naturerlebnis überwältigend – als Balsam für die Seele!
Die Landstraße nach Fürstenhagen führte stetig ansteigend und kurvenreich durch ein schmales Tal auf das Hochplateau.
Der Flockenwirbel wurde immer dichter. Der Waldboden an den Hängen und die Asphaltdecke der Fahrbahn waren bald von einer dünnen Schneedecke überzogen. Das Grau in Grau der kahlen Buchenzweige als auch das matte Grün der Fichten- und Kiefernnadeln verwandelten sich allmählich in ein wohltuendes Weiß-Grau und Grün-Weiß.
Kaum hatte es sich Markus in der Sternwarte gemütlich gemacht, als er einen Hund bellen hörte. Er stellte das Radio leise und horchte.
„Am Heiligabend ist kein Jagdmann auf der Pirsch“, dachte er und drehte das Radio wieder lauter.
Da war das Bellen erneut zu hören, diesmal ganz in der Nähe und aus einer anderen Richtung.
„Vielleicht streicht ein Fuchs auf Mäusejagd über die Felder?“
Er nahm den guten alten Feldstecher, welcher immer griffbereit an der Wand hing und trat ins Freie, um nachzusehen.
Eine mehrere Zentimeter dicke, blendend weiße Schneedecke hatte sich auf die Kuppel und Dächer der Sternwarte gelegt, auf die Rasenflächen ringsum sowie auf die Hecken, Bäume und Sträucher.
Wie üblich stand die Zauntür am Eingang des Sternwarten-geländes sperrangelweit offen, als ein junger schöner Schäfer-hund sich vorsichtig dem Eingang näherte und stehen blieb.
Markus sah im Fernglas, dass das Tier keinen Blick von ihm ließ. Es schien ein junger, noch nicht ganz ausgewachsener Schäferhund zu sein.
„Vor herrenlosen, ausgesetzten oder gar verwilderten Hunden muss man sich in Acht nehmen“, hatte ihn der Jagdpächter gewarnt. Er überlegte, wie man die Situation bereinigen könnte:
„Entweder den Eindringling auf vier Pfoten verjagen oder ihn mit in die warme Stube nehmen –.“
Markus bekam nach einer Weile des Nachdenkens Mitleid, nahm das Fernglas von den Augen und schritt langsam auf den Vierbeiner zu. Als Markus näher kam, wedelte der Hund mit dem Schwanze, knurrte, als wolle er etwas sagen und legte sich ihm zu Füßen.
„Komm mit ins Warme!“
Das sichtlich durchgefrorene, verängstigte Tier folgte ihm dicht auf den Fersen.
Im Aufenthaltsraum angekommen, ließ sich der noch junge Hund auf dem Sofa nieder, behielt aber Markus ständig im Auge.
„Was soll ich nur mit dir anfangen?“
Er setzte sich zu dem Schäferhund auf das Sofa und strich ihn sanft über den Rücken.
„Ich kenne mich im Umgang mit Hunden nicht aus. – Und einen Namen brauchst du auch!“
Er dachte nach und erinnerte sich an den Schäferhund Dux, den die Eltern seines alten Freundes Thomas früher als Wachhund hielten.
„Ich nenne dich Dux“, sprach Markus zu dem Vierbeiner, ein Rüde. Dieser schien ihn zu verstehen und bellte zweimal hintereinander.
Als Markus später das Essen und Trinken auspackte, sprang Dux vom Sofa und nahm neben ihm Platz.
„Du hast sicher Hunger.“
Dux bettelte ihn an
Markus holte aus dem Küchenschrank im Nebenraum einen flachen Teller, auf den er zwei Butterschnitten legte. Den Teller stellte er Dux vor die Nase. Dieser hatte im Nu die Brotscheiben verschlungen, so ausgehungert war er.
„Und Durst hast du auch. – Kaffee, Bier und Cola ist sicher nichts für Hunde, vielleicht Selters“, sprach es und stellte eine Schüssel sprudelnde Selters neben den Teller. Dux roch an dem brausenden Getränk, leckte mit der Zunge daran und schlabberte die Schüssel leer.
Markus ließ Dux so viel fressen und saufen, bis er rundum satt war.
„Wenn du ein Geschäft machen musst oder so“, belehrte er seinen neuen Begleiter, „dann gehst du an die Tür und bellst!“
Dux hatte ihn offensichtlich verstanden und nickte.
Inzwischen war es Nacht geworden und es schneite ununterbrochen weiter.
Mit vollem Bauch lagen Mensch und Tier gemeinsam auf dem altersschwachen Sofa und hörten im Radio, wie andere Menschen den Heiligabend im Kreise der Familie verbrachten …
Am nächsten Morgen, dem 1. Weihnachtstag, stapfte Markus in Begleitung von Dux querfeldein durch den hohen frischen Schnee nach Lutter.
Im Hauseingang trafen sie auf den Wohnungsnachbarn. Dieser spottete:
„Du bist wohl auf den Hund gekommen.“
„Mein Weihnachtsgeschenk ist mir zugelaufen – nicht wahr Dux.“
Er bellte so laut, dass es durch den ganzen Hausflur schallte.
Tage später, zwischen Weihnachten und Neujahr, waren Markus und sein Beschützer bei klarem, frostigem Winterwetter unterwegs zur Sternwarte. Am Ausgang des Lipsberg-Waldes machten sie nach dem anstrengenden Aufstieg Rast, als plötzlich aus dem dichten, verschneiten Unterholz ein stattlicher Keiler, wie von einer Tarantel
gestochen, über den Waldweg rannte und wieder im Unterholz verschwand. Markus hatte sich erschrocken. Dux, der unangeleint neben ihm stand, zeigte keine Reaktion, bellte nicht einmal.
„Da haben wir Glück gehabt!“, dachte Markus laut und sie setzten ihren Weg durch den wie Tausende Kristalle glitzernden Pulverschnee fort.
Als die ersten hellen Sterne in der Abenddämmerung am Himmel funkelten, hatten sie die Sternwarte erreicht. Markus erstellte eine Liste lohnender Beobachtungsobjekte amWinterhimmel, die er in der zweiten Nachthälfte mit dem Spiegelteleskop aufsuchen wollte. Von den berühmten Gas- und Staubnebeln im Sternbild Orion, den wohl schönsten Sternbild des Himmels, war er besonders angetan.
Um die langen, kalten Stunden am Fernrohr durchstehen zu können, sollten Körper und Geist ausgeruht sein.
Markus richtete für Dux das Nachtlager her – ein kurzer, schmaler Teppich auf dem Fußboden unter dem Küchentisch.
Zum Wecken stellte er den alten, aber sehr lauten russischen Wecker auf Mitternacht und legte sich schlafen.
Stunden später wurde er jäh aus dem Tiefschlaf gerissen: Dux hatte ihn mehrmals heftig am Hosenbein gezerrt, bis er aufgewacht war. Noch schlaftrunken auf dem Kanapee liegend, schaute er sich um. Es war stockfinster. Er rief leise:
„Dux, wo bist du?“
Dieser verließ seinen Posten vor der Zimmertür und kam auf Markus zu. Seine Augen leuchteten in einem furchtein-flößenden