Kehrtwende. Dirk Bierekoven. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dirk Bierekoven
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752925067
Скачать книгу
was du sagst, schreit nach Rache.

      Sie fuhr fort und ich hielt still. Wollte hören, wo das noch hinführte, denn tief in mir wusste ich, ich brauchte diese Chance. So kaputt war ich.

      Sie steckte das Taschentuch in ihren Ärmel zurück und sprach leise weiter.

      „Ich habe nicht auf ihn aufgepasst, wie ich das, hätte tun sollen. Ich habe ihn im Stich gelassen und das Mulder, wird mich mein Leben lang nicht mehr loslassen. Ich werde nie wieder unbeschwert leben können. Ich stehe morgens mit dem Gedanken auf und gehe abends mit ihm ins Bett. Ich träume von und mit ihm und ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann. Ich brauche einen Grund für seinen Tod. Einen Grund, mit dem ich leben kann. Ein Schicksal, das mir hilft zu verstehen, warum er getötet wurde, vielleicht, nur vielleicht, wird mir das ja helfen, ein wenig Seelenfrieden zu finden, wenn ich einen klaren Grund dafür bekommen kann, warum jemand zur Mörderei getrieben wurde und warum mein Sohn das verdient hat.“

      Sie sah mich an, doch ich sagte nichts, ließ keine Wimper zucken. Das reichte mir noch nicht.

      „Sehen Sie, Mulder“, fuhr sie fort, „versuchen Sie mal zu vergessen, dass es sich um meinen Sohn handelt. Versuchen Sie mal zu vergessen, dass es sich um mich handelt. Sie sollen mir keinen Gefallen tun. Sehen Sie das Ganze zuerst einmal als einen Job an, den Sie zu erledigen haben, einen Job, der gut bezahlt wird. Und Sie sollen jemanden retten. Den Täter. Ich will nicht, dass ihm etwas zustößt. Das war kein Profikiller, Mulder, das glaube ich nicht. Ich glaube, er ist ein Getriebener, der jetzt da draußen rumläuft, alleine, ängstlich, verzweifelt, und Hilfe braucht. Ich möchte, dass Sie ihm helfen und ihn finden, bevor es jemand anderes tut.“ Sie nahm meine Hand. „Ernsthaft, Mulder, ich will nur mit ihm reden.“ Sie sah mich mit großen Augen an.

      Verdammt, jetzt hatte sie mich.

      Glaubte ich den Schmu?

      Einen Scheiß tat ich.

      Aber ich glaubte, dass der Täter dringend Hilfe benötigte, ganz dringend, sonst waren seine Stündlein gezählt. Die Tat war nicht gut geplant, eher hektisch und kurzfristig ausgeführt. Der Ort war schlecht gewählt und er hatte pures Glück gehabt, dass ihn keiner gesehen oder überrascht hatte. Das wirre und ungezielte Einstechen auf den Körper sprach eindeutig mehr für einen emotionalen Wutabbau als für ein gezieltes Töten.

      Das war kein Profi gewesen.

      Und das war mein Aufhänger. Damit konnte ich die Scham übertünchen. Ich rette diese arme, verirrte Seele und beschütze den Attentäter vor sich selber, der Polizei und vor Eva Schulte, denn das würde ich auf keinen Fall tun – ihn ihr ausliefern. Sollte sie doch verrecken mit ihren verkackten Schuldgefühlen und ihrer beschissenen Trauer. Sollte sie doch ihr verdammtes Leben lang kein Auge mehr schließen, das war mir scheißegal. Sie hatte es verdient. Ich wollte nicht wissen, wie viele Menschen wegen ihrer Sippe nicht schlafen konnten und immer noch nicht können. Ich hatte diesen armen Kerl zu retten. Ich spürte, wie es im Magen zu kribbeln und meine Schale weiter zu schmelzen begann. Das war perfekt. Es fügte sich perfekt ineinander. Eine vollkommen unerwartete Wendung, mit der ich in hundert Jahren nicht gerechnet hätte und die all meine Sorgen, Ängste und momentanen Unzulänglichkeiten auf einen Schlag ad acta legen würde.

      Es war perfekt.

      So weit der Plan.

      Meine Euphorie revitalisierte meine Kräfte.

      Ich würde alles wieder unter Kontrolle bringen.

      Das Adrenalin bahnte sich seine Wege und ich konnte dies kaum verstecken. Ich versuchte es, sagte kein Wort und ließ sie scheinbar zappeln, aber ich war so aufgeregt, das musste sie spüren, das war nicht anders möglich.

      Sie stand auf, zog ihren Mantel an, schmiss zehn Westmark auf den Tisch, nahm ein Stück Papier und einen Stift aus ihrer Handtasche und kritzelte etwas auf den Zettel. Hielt ihn mir hin und sagte:

      „Überlegen Sie es sich, Mulder. Ich gebe Ihnen zwei Tage Zeit. Hier ist meine Telefonnummer, rufen Sie mich an, wenn Sie sich entschieden haben.“

      Sie sah auf den Umschlag und fuhr fort: „Behalten Sie das Geld, egal wie Sie sich entscheiden.“

      Sie blieb weiter stehen und sah mich an. Sie wollte noch etwas loswerden, wusste aber offensichtlich nicht, wie, bis sie wieder ansetzte.

      „Es tut mir leid, was Ihnen zugestoßen ist, Herr Mulder ...,“

      – Herr Mulder?

      „... es tut mir leid, dass wir an Ihrer Situation mit Schuld tragen. Aber bitte versuchen Sie es für den Moment zu vergessen und helfen Sie einer verlorenen Seele.“

      Dann drehte sie sich um und verschwand durch die Tür in den kalten, dunklen Abend.

      Für mich war die Sache längst klar. Ich hatte meinen Anker gefunden und würde ihn werfen.

      Von neuem Mut erfüllt, nahm ich den kurzen Klaren und schmiss ihn hinter die Binde. Löschte mit dem hellen Braunen und orderte nach.

      Morgen würde ich beginnen.

      Gleich morgen früh würde ich mich der Sache annehmen.

       Gerechtigkeit ist Vergeltung

       Dieses Mal hatte er sich nicht mehr übergeben müssen.

       Dieses Mal nicht.

       Dieses Mal war alles viel einfacher gewesen.

       Er kniete noch über seinem Opfer. Das Messer in seiner linken und aufgestützt auf seiner rechten Hand. Er beobachtete, wie das Blut von dem Messer auf die Überreste dessen, was einmal ein Gesicht war, herabtropfte, und wartete, dass ihm übel wurde. Doch das tat es nicht. So schnell gewöhnt man sich also an Grauenhaftes, dachte er. Er war ruhiger gewesen dieses Mal. Besonnener in seiner Vorbereitung, effizienter und klarer in seinem Handeln. Nicht mehr nur blind getrieben von Schmerz und Rachegelüsten. Seine wahre Rache hatte er im Grunde bereits vollbracht. Dies war nur weitere Gerechtigkeit. Seine Gerechtigkeit.

       Und ein passendes Strafmaß für seine Tat, das außerhalb eines Strafmaßes dieser künstlich geschaffenen Gesellschaft und ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit lag. Hier waren moralische Interpretationen von Höheren gefragt. Hier war Nietzsche gefragt. Und Nietzsche antwortete:

       Gerechtigkeit ist Vergeltung und Austausch.

       Und wer Tod bringt, verdient nur eine Strafe zum Austausch, den Tod.

       Er sah auf das zerschundene Gesicht hinab. Auf die tiefen Wunden, aus denen das Blut eben noch gesickert war und die jetzt wie kleine, erschrockene Kindermünder aussahen. Er drehte den Kopf seines Opfers, um die Augen betrachten zu können. Er wollte sehen, ob der Schrecken in ihnen haften geblieben war. Doch es lief nur eine weiß-rote Matsche aus den tiefen Höhlen heraus. Er war erstaunt über seine eigene Kaltblütigkeit. Nichts regte sich in ihm. Er blieb neben seinem Opfer knien, schaute auf es hinab und versuchte, sich gewahr zu werden, was seine nächsten Schritte sein würden. Er sah sich um, ob er immer noch alleine war. Er suchte nach Spuren, die er zu beseitigen hatte. Er öffnete die Hände des Toten und schaute, ob er etwas festhielt, das von ihm war, fand aber nichts. Er legte seine Hand in die geöffnete des Toten. Es fühlte sich fremd an. Der Tod war zu spüren. Nichts fühlte sich vergleichbar an. Er fuhr mit seiner flachen Hand über die erschlaffte des Toten, um sicherzugehen, dass nichts haften geblieben war. Er sah sich die Fingernägel an, nahm sein Messer und reinigte sie. Stand auf, sah an sich herunter, ob an seiner Kleidung etwas fehlte, fand aber alles an seinem Platz. Er schritt den Weg zurück über den Rasen bis zu der Stelle an der Häuserecke, wo er gestanden und gewartet hatte, suchte dort nach Fußspuren und fand einige. Er lief zum anliegenden Haus, öffnete die Mülltonne, nahm vier Holzstücke heraus und kratzte mit diesen den Rasen an der Häuserecke auf. Dann ging er wieder zur Mülltonne zurück, nahm reichlich Unrat heraus und verstreute ihn auf der Leiche und um sie herum. Das wiederholte er dreimal, bis er glaubte, dass es ausreichend war, um seinen Geruch