Schöne neue Welt
Ich schlenderte die Friedrichstraße hinunter, vorbei am Checkpoint Charlie, rüber in den Westen. Ein wahrlich einzigartiger Moment und außergewöhnliches Gefühl, dies zu tun.
Ein Gemisch aus Unglauben, Nervosität und Enthusiasmus. Ein Gedanke an unendliche Freiheit, der eingefangen und weltweit jedem Menschen einmal implantiert gehört, dann wären viele Dinge anders.
Aber da war auch ein drückendes Gefühl im Nacken. Das Gefühl, beobachtet zu werden. Und da bin ich gespannt, ob das irgendwann einmal weg sein wird. Wahrscheinlich eher nie so ganz.
Es war ein wunderschöner Tag für einen Spaziergang in die neue Welt. Die klirrende Kälte ließ meinen Atem für einen Moment vor dem Gesicht gefrieren und durch die tief stehende Sonne wie orangene Zuckerwatte in der Luft schweben, bis ich ihn durchbrach.
Wenn ich meinen Kopf hob, um die Friedrichstraße hinunterzuschauen, blendete die Sonne mich so sehr, dass ich kaum die Häuser vor mir sah.
Also ließ ich meinen Kopf unten.
Es war eine Expedition ins Ungewisse.
Es war Freiheit.
Ein Hochgefühl, wie ich es nie zuvor gefühlt hatte. Ich hätte platzen können vor Freude, Lebenslust und Kraft. Ließ es aber sein und versuchte, stattdessen jeden Augenblick in mich aufzusaugen. Augen zu und immer weiter und weiter und weiter. Es war sagenhaft. Adrenalin wütete mir in den Eingeweiden, befeuerte mein Herz zu Höchstleistungen. Dachte, dass nichts und niemand mich je wieder würde aufhalten können.
Ich fragte mich, wie das alles nur möglich gewesen war. Wie hatte ich nur bislang so leben können. Wie hatte ich nur so blind sein können. Es war mir unerklärlich. Aber ich verdrängte die bösen Gedanken. Was nutzten diese jetzt noch? Ich hatte überhaupt gar keine Lust auf Depressionen und wollte all das einfach nur genießen.
Laufen.
Laufen.
Laufen.
Ich durchschritt die Straßen mit mächtigen Schritten, geblendet von der Sonne und meinem Übermut, in ein unbekanntes Nichts hinein. Ich durchpflügte die Freiheit im Rausch der eigenen Säfte, bis die Sonne ihre wärmenden Strahlen nicht mehr über die Häuserzeilen werfen konnte und ich zunehmend fror.
Zitternd fiel ich in das erstbeste Café.
Ich trat ein und sah mich um. Es war nicht sehr viel los. Zwei weibliche Pärchen in dem kleinen Raum verteilt. Ein wahlloser Mix aus Holzstühlen und Tischen, was erstaunlicherweise gar nicht chaotisch wirkte, sondern sich im Gegenteil als in sich geschlossen und wohl durchdacht herausstellte.
Ich setzte mich auf einen freien Platz gleich ans Fenster und schaute durch die Dämmerstimmung die Straße hinunter. Ich war so lange gegangen, ich hatte verdammt noch mal keine Ahnung, wo ich war. Auf der Straße war kein Mensch, nur vereinzelt brauste ein Auto vorbei und hinterließ seine Duftmarke in Form eines Kondensstreifens.
Ich nahm mir die Karte, überflog sie kurz und blieb an der Bombay-Lunchbox hängen.
Schöne neue Welt!
Schwups war der Kellner da und ich schwöre bei Gott, er war Inder. Der erste verdammte Inder, den ich in meinem Leben persönlich treffe.
Schöne neue Welt!
Ich schaute gar nicht weiter in die Karte, meine Wahl war getroffen.
Er fragte: „Was darfs denn sein, Professor?“
Ich strahlte ihn über beide Backen an und formulierte ein souveränes: „Ääh ..., erst einmal einen heißen Grog und dann, äähh … die Bombay Lunchbox?“
„Gute Wahl“, und er verschwand.
Ja ich weiß, Grog … Alkohol … schon klar. Aber ich sagte bereits, ich würde nie mehr „nie wieder“, sagen. Und ich hatte nie auch nur mit einer Silbe gesagt, dass ich nie wieder Alkohol trinken würde. Ist doch vollkommen utopisch, jetzt mal ehrlich. Warum auch? Muss mich nur ein bisschen am Riemen reißen.
Der heiße Grog kam und Himmel, das konnte sich einen Grog nennen. Der verdampfende Alkohol trieb mir Tränen in die Augen. Ich nahm einen ersten, tiefen Schluck und es war göttlich. Ich hatte seit drei Tagen keinen Alkohol zu mir genommen und nun erwärmte dieser kleine Schluck heißes Wasser, angereichert mit Ethanol, mein schrumpeliges, vertrocknetes Herz und ließ es im Quadrat springen. Das ist das Gute an der Abstinenz, der erste Alkohol danach, das ist unvergleichbar. Trat mir gleich ins Blut über und die Kälte war fortgeblasen. Ich befand mich immer noch in Hochstimmung und jetzt hätte ich jeden hier im Saal noch zusätzlich küssen können, inklusive Inder.
Ich schaute zur Bar und sah das junge Ding, welches die Getränke mixte. Bei Hebe, sie sah so jung aus, ich wette, sie wusste gar nicht, wie sie einen Grog einzuteilen hatte. Mir sollte es recht sein. Bevor mein Essen kam, hatte ich bereits einen kleben und das half dann wirklich beim „Genießen“ der Lunchbox, denn, mein lieber Erich, das war harte Arbeit. Da waren so viele verschiedene Geschmäcker dabei, die mir aber auch so gar nicht zusagten, dass nur der Alkohol und der Hunger es reintrieben. Als ich fertig war, kam der Kellner zurück und fragte:
„War alles gut, Professor?“
„Alles bestens!“
Zufrieden mit sich und seiner Leistung zog er mit meinem leeren Teller davon und ich wusste genau, nee, indisch wird so eher nicht meins.
Ich goss mir einen zweiten heißen Grog hinter die Binde und verließ dann, ein wenig traurig, meine neuen Freunde aus dem Café.
Ich trat auf die Straße in ein mitternachtsblaues Dunkel, nur vereinzelt durchbrochen von kleinen künstlichen Sonnen aus orangenem Licht, und versuchte, mich zu orientieren, doch bis auf die grobe Richtung konnte ich nicht sagen, wo mein Weg lag.
Ich lief die Straße zurück, aus der ich gekommen war, und hoffte auf kleine Hinweispunkte, die mir helfen würden, meinen Weg zu finden. Dabei verlief ich mich dann endgültig. Es war so dunkel. Und die Straßen so unendlich weit. Manchmal hasste ich diese Stadt.
Fluchend und suchend lief ich gerade eine weitere mir vollkommen unbekannte Straße hinunter, als mir ein Typ mit einer jungen Frau an seiner Seite vom Ende der Straße entgegenkam. Er trug ausgebleichte Jeans, Springerstiefel, grüne Bomberjacke und Glatze. Perfekt, dachte ich. Sie: Kurzen Rock mit schwarzer Strumpfhose darunter, weinrote Doc Martens und verschmierte Jeansjacke. Ihre schwarzen Haare waren auf einer Seite abrasiert und hingen auf der anderen Seite lange herunter. Wie Faust aufs Auge, die beiden, wie Arsch auf Eimer … und es ist ja manchmal kaum zu erklären, aber es gibt Situationen im Leben, wo man schon von weitem fühlt, wenn etwas schiefzulaufen droht. Dann spürt man die Spannung, die in der Luft liegt, im Haaransatz. Oder geht das nur mir so? Vielleicht noch allen anderen Bullen auf dieser Welt? Jedenfalls hier knisterte es gerade eindeutig, und zwar nicht vor Liebe. Ich spannte an. Die beiden kamen betont lässig, im Gang hin und her wackelnd direkt auf mich zu und als wir auf gleicher Höhe waren, zückt der Idiot ein Messer, fuchtelte mir vor der Nase herum und lachte dabei spöttisch.
„Alles klar, Mann …“, sagte der Idiot, „… gib mir dein Scheißgeld.“
Die Kleine an seiner Seite lachte sich scheckig und feuerte den Idioten noch an: „Los, stich dem Wichser ins Auge“, und schubste mich am Arm.
Tja, das hätte sie besser sein lassen. Ich schnappte mir ihre Hand, drehte sie ihr auf den Rücken, hob sie an und kugelte ihr die Schulter aus. Sie schrie vor Schmerzen auf, sackte auf die Knie in sich zusammen und wimmerte wie ein kleines Hündchen. Der Idiot, zunächst baff, wie schnell das passierte, schnallte es aber zu seinem eigenen Pech nicht, was er gerade gesehen hatte, so konnte er auch keine Lehren daraus ziehen und vielleicht verstehen, dass dies eine Nummer zu groß für ihn war. Er stürzte sich vollkommen unkontrolliert und irre auf mich. Doch unkontrolliert und irre kann ich gut. Trat einen Schritt zur Seite schnappte, mir seinen