Da dachte ich mir: Scheiß drauf, und gab ihm eine Kopfnuss par excellence, mitten ins Gesicht.
Patsch.
Ein bisschen überreagiert?
Vielleicht.
Ob ich das im Nachhinein bereue?
Nie im Leben.
Danach war jedenfalls der Teufel los.
Mein Boss auf mich drauf und brüllte mich an, die zwei Lederjacken vor der Tür stürmten den Raum und ebenfalls auf mich drauf. Und bevor ich auch nur ordentlich „Aua“ sagen konnte, fand ich mich in einer Zelle im Untergeschoss des Nebengebäudes Keibelstraße wieder. Nur einen Bierflaschenwurf von meinem geliebten Büro entfernt, in dem ich eben noch so wunderschön melancholisch den Nieselregen auf der Fensterscheibe beobachtet hatte.
Wer das wohl war?
Flackernde, zuckende Bilder.
Jubelnde Menschentrauben liegen sich in den Armen.
Hammer und Meißel gehen nieder auf die bunte Mauer.
Überfüllte Kneipen, laut und stinkend.
Gesänge durch dicke Nebelschwaden aus
Zigarettenrauch und Körperdunst.
Biergläser und Schnaps, über den Köpfen alles benetzend.
Irgendwann wurde ich wach und fand mich in einer kahlen, weiß gekachelten Zelle wieder. Meine Wunden waren provisorisch versorgt und mein Kopf dröhnte unerträglich. Ich stand auf, schleppte mich zur Schüssel und erleichterte mich in drei Varianten. Schaute in den Spiegel aus Metall und sah genau das, wonach ich mich fühlte. Alles tat weh und der Affe tanzte auf meiner Schulter. Ich schlurfte zurück zur Pritsche, legte mich und fiel in einen weiteren unruhigen Schlaf.
Ein kalter Boden in einer kalten Gasse.
Kindergelächter auf einer Parkbank.
Taumelnd in die nächste Kneipe.
Einsam in der Ecke.
Türme von Bier- und Schnapsgläsern.
Nasse, nach Schnaps und Zigaretten stinkende Küsse.
Weiches, dickes Fleisch, das mich benutzt und im Hausflur liegen lässt.
Nach ungewisser Zeit kam ich wieder zu mir. Jetzt ging es meinem Körper ein wenig besser, doch die ersten klaren Gedanken schmerzten dafür umso mehr. Ich hatte meine Arbeit verloren. Das Einzige, was mir noch wichtig und teuer gewesen war. Das Einzige, was mich morgens hatte aufstehen lassen.
Und das tat dann mal richtig weh.
Ich weinte wie ein kleines Kind.
Ein Polizist kam und gab mir Medikamente, Essen und Wasser. Ich inhalierte die Drogen und schlief wieder ein. Irgendwann weckte mich der Polizist und sagte, ich solle jetzt aufstehen, ich könne jetzt gehen. Er geleitete mich durch das Gebäude, schloss eine Tür auf und entließ mich in eine Nebenstraße. Es regnete immer noch, es war kalt und der Tag verabschiedete sich gerade in die Nachtruhe. Ich schlug den Kragen meiner Lederjacke auf, lief um das Gebäude herum und stand auf dem Alexanderplatz. Schlich weiter, zurück in die Hans-Beimler-Straße bis auf den Parkplatz und schaute hoch in den vierten Stock, sah, wie die Lichter im Eckbüro angeschaltet wurden, und fragte mich, wer das wohl war.
Ich stand da, und der Regen lief mir vom Kopf am Hals herunter, am Lederkragen vorbei und unter meinen Rollkragenpullover. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich dort stand, doch irgendwann gab es nichts Warmes mehr in mir und außen war alles nass. Ich zitterte schubweise. Tastete meine Taschen ab nach einer Zigarette, fand aber keine.
Dann sah ich mich um und versuchte, klar zu denken, suchte nach einem Ziel, das mich auffangen konnte, da ich im Begriff war, haltlos zu fallen. Doch ich fand keines.
Ich ging fort, mitten hindurch die riesige Steinwüste, die vollgestopft war mit einzelnen Leben, von denen keines meines kreuzte. Ich wollte nur weg von diesem Ort, der mir nun nur noch Hoffnung nahm statt wie bislang gab.
Ich durchzog von da an die Stadt und meine Zeit wie ein Neutron seinen Weg durch die Weiten des Raumes, einsam und ohne Kollision.
Alles um mich herum war im Wandel und freudeerregt. Eine neue Weltordnung entstand, eine neue Zeitrechnung begann, doch all dies perlte an mir ab wie ein klarer Wassertropfen auf einem Lotusblatt.
Ich fühlte mich wie in einer geistigen Zwangsjacke. Es war, als hätte mein Verstand aufgegeben, ohne das mit mir zu diskutieren.
Es war, als wären meine äußeren Schalen abgestorben und hätten mit dem toten Gewebe einen dicken Panzer um mich herum gebildet, in dem ich tief unten drin verborgen hockte und darum kämpfte, nicht ganz und für immer zu verschwinden.
Alles, was in den darauffolgenden Tagen und Wochen folgte, waren lediglich kurzsichtige Reaktionen meines Instinktes, der bei mir offensichtlich auf vollkommene Selbstaufgabe programmiert war.
Ich tingelte zwischen den Kneipen hin und her wie eine Kugel in einem Flipperautomaten, abwechselnd zwischen haltlos und knapp haltlos betrunken.
Nahm Betablocker für meinen Körper, und Faustan mit blauem Würger für meinen Verstand.
Tage und Nächte verschwammen ineinander zu einer grauen, unwirklichen Masse. Zeit war ohne Bedeutung für mich.
Ich strapazierte meine Anwesenheit in den Kneipen auf das Äußerste, bis ich in den meisten keinen Einlass mehr erhielt und das Einzugsgebiet erweitern musste. Meine Heimat, Prenzlauer Berg, wurde nur noch Durchgangsstation für mich.
Wenn ich nicht in einer Kneipe war, schlief ich meinen Rausch aus. Wahlweise in irgendeiner Gasse, bei irgendeiner weiteren verlorenen Seele im Bett oder, wenn ich Glück hatte, bei mir zu Hause.
Ich beobachtete meinen eigenen körperlichen Verfall im Spiegel und konnte nichts dagegen tun.
Es gibt nicht viel, was mir aus diesen Tagen in Erinnerung geblieben ist, aber eines weiß ich noch: Der Name Max Schulte schwebte über mir und allem, was ich tat, wie eine Schmeißfliege über einem Haufen Kuhscheiße. Ich konnte um mich schlagen, wie ich wollte, mich betäuben oder betäuben lassen, nichts nutzte. Bis ich aufgab und akzeptierte, dass er für den Rest meines Lebens an mir kleben würde wie Haare auf nasser Seife.
So vergingen die Wochen und ich fiel unaufhaltsam.
Max Schulte
Vielleicht ein paar Sätze zu Max Schulte.
Vor der Versetzung zum MUK Berlin und nach meinem Jurastudium war ich aufgrund meiner herausragenden Leistungen und Talente einer Sonderkommission zugeteilt worden, die sich mit Verbrechen und Korruption auf den allerhöchsten Ebenen befassen sollte. Es gab nur eine Handvoll von uns, die allesamt direkt dem Oberstaatsanwalt unterstellt waren. Es war der absolute Traumberuf. Mehr ging nicht. Außer vielleicht Diplomat in den Vereinigten Staaten oder in Paris. Für mich war es der reinste und meiner damaligen Überzeugung beste Weg, dem Sozialstaat, wie ich ihn mir vorstellte und wie ich ihn begriff, zu dienen. Es dauerte Jahre, bis mir klar wurde, dass wir nichts, aber auch wirklich gar nichts bewirkten, bewahrten, veränderten oder auch nur annähernd beschützten, was mir zu Beginn vorgegaukelt worden war. Wir waren Marionetten. Wir waren Vorführpüppchen, alle hochqualifiziert, bestens ausgebildet, aber eben nur teure Alibis, die von denen ganz oben benutzt wurden, um die unten zu beruhigen. Um ihnen zu zeigen: „Seht her, wir lassen uns kontrollieren und ihr werdet nichts finden.“ Aber es war alles nur Schein. Kein Sein. Wir verrichteten unsere Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen. Und sie ließen uns immer wieder