Die mit Abstand prägendste Erfahrung ereignete sich jedoch kurz bevor Jonas Hector im Viertelfinale der EM 2016 den entscheidenden Elfmeter für Deutschland verwandelte. Im Sommer 2016 fuhr ich mit dem Zug nach Paris und besuchte Emma, die ich im Auslandssemester kennengelernt hatte. Das Gastgeberland der Europameisterschaft war im absoluten Fußballfieber und in der Stadt waren mehrere Fanmeilen aufgebaut, auf denen die Spiele live übertragen wurden. Für das Spiel Deutschland gegen Italien fiel unsere Wahl auf die Fanmeile am Eiffelturm. Das für 92.000 Menschen ausgelegte Areal war an diesem Tag schätzungsweise zu 60 Prozent gefüllt, sodass knapp 55.000 Menschen zusammen das Spiel sahen. Wir standen in der Mitte des Geländes und blickten auf die riesige Videoleinwand, hinter der sich der Eiffelturm imposant in die Luft erhob. Das Wahrzeichen der Stadt war aufwendig beleuchtet und in der Dämmerung ergab sich eine einmalige Atmosphäre.
Diese wurde allerdings in der 80. Minute jäh unterbrochen, als auf einmal die gesamte Menschenmasse vor uns – also bis zu 27.000 Fans – panisch auf uns zugelaufen kam. Ohne zu wissen, was passiert war, griff ich nach Emmas Hand und wir sprinteten los. Nach einigen Metern stürzte sie sogar und Menschen stolperten über sie. Zusammen mit einem italienischen Fan konnte ich sie zum Glück sofort wieder auf die Beine bringen und wir schafften es, das Gelände lediglich mit ein paar Kratzern zu verlassen und den Heimweg anzutreten. Auch hier fühlte ich mich unglaublich unsicher in der Stadt. Da unsere einzige Möglichkeit nach Hause die Bahn war, verschwand dieses Gefühl auch erst, als wir zuhause ankamen und die Tür hinter uns verschließen konnten.
Im Vergleich zum Anschlag in Barcelona wurde bei dieser durch eine kleine Prügelei ausgelösten Massenpanik niemand schwerer verletzt und die Berichte schafften es nur vereinzelt bis nach Deutschland. Aber mitten in einer terrorgefährdeten Stadt, die von schwer bewaffnetem Militär beschützt wird, rechnet man für einen kurzen Augenblick mit dem Schlimmsten, wenn auf einer Großveranstaltung tausende Menschen panisch auf einen zugelaufen kommen. Daher sind die Bilder in meinem Kopf auch deutlich intensiver abgespeichert als die Bilder aus Barcelona. Wenn ich mich an den Moment zurückerinnere, ist die Szene in meinem Kopf immer mit einer Musik unterlegt, die bei Computerspielen wie Age of Empire genutzt wurde, um eine Angriffsszene akustisch zu dramatisieren. Ich glaube, allein das verdeutlicht, wie prägend dieses Ereignis für mich war.
Ich bin sehr froh, dass dieser Film trotz allem nicht allzu oft in meinem Kopf abgespielt wird. Auch haben die Erlebnisse nicht dazu geführt, dass ich große Menschenansammlungen außerhalb von Corona nicht mehr besuchen möchte. Dennoch zählt dieser Abend, genau wie Barcelona und New York, zu den prägendsten Ereignissen, die ich bisher erlebt habe und die ich seitdem als Teil meiner eigenen Geschichte mit mir trage. Jede dieser Erfahrungen trug dazu bei, dass ich mich für eine kurze Zeit intensiver mit dem Sinn des Lebens beschäftigte und allmählich begann, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Vor allem nach Paris dachte ich viel darüber nach, was ich im Leben erreichen möchte, bevor es vielleicht irgendwann unerwarteterweise zu spät sein könnte.
Der erste Schritt
Auch wenn die Ereignisse im Anschluss wieder von meinem Alltag überlagert wurden, verstärkten sie weiter meinen Antrieb, die eigene Einstellung zum Leben zu hinterfragen. Nicht, dass mir meine Zukunftsplanung vorher egal gewesen wäre. Schließlich hatte ich nach meiner Schule ein Bachelorstudium angefangen, um mich für die berufliche Laufbahn vorzubereiten.
Nur überkam mich das Gefühl, dass ich etwas machen wollte, um meine persönliche Entwicklung voranzutreiben. Zu sehr hatte ich die letzten 24 Jahre in der eigenen Komfortzone verbracht. Zwar wohnte ich bereits seit einem Jahr unter der Woche nicht mehr zuhause, doch waren die Eltern und das gewohnte Umfeld immer noch als Absicherung in unmittelbarer Nähe.
Aus diesem Grund traf ich 2017 die finale Entscheidung, meine Zelte im Rheinland abzubrechen und für ein Masterstudium mit Schwerpunkt Marketing & Sales Management und einen neuen Job nach Hamburg zu ziehen. Ich wollte mich einer neuen Herausforderung widmen, die ich außerhalb meines gewohnten Umfeldes angehen und an der ich persönlich wachsen konnte.
Bis die Entscheidung final getroffen war, musste ich mich allerdings meinen Zweifeln und Ängsten stellen. Ich fertigte unzählige Pro-Contra-Listen an und überlegte mir, welche Auswirkungen ein Umzug für mich bedeuten würde. Vor allem der Abschied von meiner Familie und von den Freunden, die teilweise seit über 15 Jahren an meiner Seite waren, ließ mich zögern. Auch der Abschied von der heißgeliebten Domstadt würde große Überwindung erfordern, ebenso wie der Aufbruch ins Ungewisse. Nach reifen Überlegungen kam ich zu dem Schluss, dass es der perfekte Zeitpunkt für einen vorübergehenden Abschied war. Als Single mit Mitte 20 stand ich fest genug im Leben und war gleichzeitig so unabhängig wie unter Umständen in keiner folgenden Phase des Lebens. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und zog in den Norden.
Moin Moin aus Hamburg
Es ist schon ein komisches Gefühl, sein altes Umfeld hinter sich zu lassen. Der Abschied fiel mir daher sehr schwer. Dennoch hatte ich mich auch bewusst für die Hansestadt entschieden, um im Zweifel innerhalb von ein paar Stunden wieder zuhause sein zu können. Doch als ich im Februar 2018 in Hamburg ankam, verschwand das Heimweh zu meinem Erstaunen sehr schnell.
Die Hansestadt begeisterte mich mit ihrer maritimen Atmosphäre von Anfang an. Niemals hätte ich daran gedacht, dass mich etwas anderes als Dom, Rhein und Kölsch so glücklich machen könnte. Es schien die perfekte Entscheidung gewesen zu sein. Ich fand eine eigene Wohnung in bester Lage, konnte auf der Arbeit sofort Anschluss finden und hatte einen sehr kollegialen Unikurs. Einige der neuen Kontakte wurden schnell zu guten Freunden, mit denen ich regelmäßig auf der legendären Reeperbahn oder in der Schanze unterwegs war. In meiner Freizeit genoss ich es, mitten in der Großstadt so viele Rückzugsorte zu haben und mich am Wasser oder im Grünen aufhalten zu können. Musste ich doch mal ans Meer, brauchte ich nur eine Stunde bis nach Travemünde. In besonderem Maße genoss ich aber mein unabhängiges Leben. Zum ersten Mal konnte ich komplett frei entscheiden, was ich den Tag über machen wollte und musste auch niemandem Bescheid geben, wann ich wo bin und ob ich zum Essen nach Hause komme.
Natürlich gab es auch einiges, an das ich mich erst gewöhnen musste. Ich wurde zu jeder Tageszeit mit einem freudigen Moin begrüßt, wurde an der Theke nach der gewünschten Sorte gefragt, wenn ich ein Bier bestellte und Gespräche über den Dom drehten sich auf einmal um ein vierteljährig stattfindendes Volksfest. Am 11.11. konnte niemand so wirklich verstehen, warum ich an diesem Tag so gerne in Köln gewesen wäre und das Einzige, was mein Umfeld zum Thema Karneval beitragen konnte, war der Refrain von Viva Colonia. Zusätzlich stand ich vor der Herausforderung, mir ein neues Sozialleben aufzubauen und in einer fremden Stadt Anschluss zu finden. All das sollte meiner Begeisterung für die Hansestadt allerdings nicht schaden.
Ein Millennial in der Krise
Gegen Ende 2018 wurde der Zauber der Stadt langsam zur Gewohnheit und meine Gedanken kreisten zunehmend um meine Zukunft. Je mehr ich darüber nachdachte und je mehr ich mein Handeln hinterfragte, umso größer wurde meine Unsicherheit:
Was mache ich nur nach meinem Masterstudium?
Will ich eine steile Karriere oder ein erfülltes Leben?
Sollte ich zurück nach Köln oder hier in Hamburg bleiben?
Bin ich überhaupt noch auf dem richtigen Weg?
Kann ich die ganzen Erwartungen erfüllen?
Warum bin ich aktuell Single?
Bin ich vielleicht gar nicht gut genug?
Zweifeln die anderen gerade auch an allem?
Dies ist nur ein Auszug der Fragen, die von nun an meinen Alltag bestimmten. Ich glaubte, beruflich