Niederzwingende Verzweiflung vermischt mit Trauer und Panik übermannte ihn – trieb brennende Tränen aus seinem aufgebrachten Inneren hervor.
Hatte er sich mit dieser Tat etwa alles verdorben?
Bei Gott!
Wenn dies tatsächlich der Fall war, was sollte er dann tun?
Kapitel 22 – Keine Kraft mehr
»Ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch erklären soll!«
Anna hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Die Haare trug sie heute perfektionistisch hochgesteckt. Mit ihren rehbraunen Augen, den einzelnen gewellten ihr ebenmäßiges Gesicht umrahmenden Strähnen, den roten Lippen und den farblich dazu passenden lackierten Fingernägeln wirkte sie wie eine Hollywood-Diva des letzten Jahrhunderts. Und genauso, wie diese mit ihrem Personal umzugehen pflegte, ließ sie mich heute wieder einmal spüren, wie unbedeutend und unfähig ich für das Team war.
»Der Betrag kommt in die rechte Spalte! Bist du echt so bescheuert?« Abgesehen von Annas wutentbrannten Stimme herrschte Totenstille im Büro. Entweder fühlten auch die anderen Kollegen sich eingeschüchtert, oder wollten diese bloß keine Beschimpfung versäumen, um meine Dummheit in der Mittagspause dann nochmals lang und breit durchkauen zu können.
Ich wusste es nicht.
Ich wusste gar nichts mehr.
Ich versuchte lediglich, meine Tränen zurückzuhalten.
»Ich verstehe nicht, wie du diesen Job überhaupt hast erhalten können!«, zeterte sie. »Es gibt so viele fähige Arbeitslose … aber gerade du bekommst eine Chance!«
Verkrampft hielt ich den Blick auf das Kassabuch gerichtet. »Ich habe den Betrag irrtümlich in die falsche Spalte eingetragen.«
Ich wusste, ich hatte einen Fehler begangen. Aber ebenso gut wusste ich, wohin der Betrag gehörte …
»Ja, sicher doch!« Ihre keifend ausgesprochene Entgegnung triefte vor Sarkasmus. »Du weißt ja so gut Bescheid.« Es folgte eine Kunstpause, in welcher sich erbarmungsloser Zorn auf ihre Gesichtszüge ausbreitete. »Versuche erst gar nicht, dich hier mit bescheuerten Aussagen herauszuwinden! Der Fehler ist da. Ich habe ihn selbst gesehen!«
…
Ich wollte ihn doch ausbessern!
»Ich habe mich geirrt«, versuchte ich verzweifelt zu erklären. »Weil ich eine Zeile weiter oben einen Eingangbetrag –«
»Das interessiert mich einen Scheißdreck!«
Ich zuckte zusammen.
»Es reicht mir! Endgültig! Ich habe lange genug zugesehen. Ich habe mir deine erbärmlichen Ausreden lange genug angehört und dich wieder und wieder korrigiert. Die ganze Zeit habe ich dir geholfen!«
Wie wahnsinnig begann mein Herz zu rasen, infolge dessen ich unwillkürlich nach Luft schnappte.
»Und du?!«, fuhr sie fauchend fort – es jagte mir heiß und kalt den Rücken hinunter. »Du hast nichts anderes zu tun, als deine Dummheit mit billigen Ausreden zu verschleiern!« Eine weitere Pause folgte – eine Pause, in der ich einzig das Rauschen meiner Ohren vernahm. »Ich habe mich die ganze Zeit hinter dich gestellt! Wenn ich unkollegial gewesen wäre, dann hätte ich dem Chef deine katastrophale Arbeit schon vor einem halben Jahr unter die Nase gerieben!«
Verzweiflung, Furcht und Wut schnürten mir die Kehle zu.
Ja, ich hatte Fehler gemacht … ein paar dumme Fehler – aber konnten diese nicht meine gesamte Arbeit schlechtmachen!
Zögerlich suchte ich ihre Augen.
Sie funkelten wie die eines Dämons.
»Was siehst du mich so an?!« Wie immer machte sie keinen Hehl daraus, ihre enorme Abneigung gegen mich durch abschätzige Blicke zum Ausdruck zu bringen. »Willst du mir neue Ausreden vorkauen?! Glaubst du echt, irgendjemand hier –« Sie vollführte eine ausladende Geste mit den Armen. »Kauft dir das noch ab?!«
…
Ausreden … Stets sprach sie von Ausreden … Wann hatte ich jemals eine Ausrede benutzt? Und warum schrie sie mich andauernd an? Ich hatte nie mit ihr geschrien! Nie! Kein einziges Mal!
Meine Wut wuchs an – sie kribbelte in meinem Bauch, beschleunigte meine Atmung, verspannte meine Muskeln.
Und dann passierte es.
»Ich wollte diesen Posten nie haben!«, kam es schneller über meine Lippen, als ich nachzudenken in der Lage war. »Ursprünglich war ich für die Buchhaltung nicht vorgesehen gewesen!«
…
Jetzt war es raus.
Das erste Mal hatte ich meine Meinung offen ausgesprochen.
Doch gleichermaßen schnell, wie Erleichterung sich in mir erhob, wurde diese von Panik verdrängt – ausgelöst durch Annas Make-up beladenes Gesicht, welches sich zu einer wutentbrannten hässlichen Fratze verzog.
»Ach ja?!« Ihre Stimme überschlug sich regelrecht – und mir krampfte es den Magen zusammen.
Langsam beugte sie sich zu mir – wie ein Raubtier, das kurz davor stand, seine Beute zu erlegen. »Du machst einen fürchterlichen Job und dann besitzt du noch die Frechheit, so undankbar zu sein?! In einer anderen Firma hätte man dich längst rausgeschmissen!«
Gänsehaut jagte mir über den Körper, meine Ohren schmerzten und mein Herz fühlte sich an, jede Sekunde zerreißen zu wollen.
»Saskia hat –«
Mit einer aggressiven Handgeste brachte sie mich zum Schweigen. »Willst du jetzt noch Saskia unterstellen, dass sie dir deinen Job weggenommen hat?« Sie drehte sich zu unseren Kollegen um. »Hört ihr das?«
Niemand von den Angestellten gab einen Laut von sich, wodurch Anna sich offenbar darin bestärkt fühlte, mit ihrer Schimpftirade fortzufahren.
»Lisa meint, Saskia wäre schuld, dass sie nicht zurechtkommt! Kann man sich das vorstellen?!« Damit wandte sie sich wieder mir zu. »Das ist so typisch! Weißt du das überhaupt?« Ein verächtliches Schnauben folgte. »Nein … natürlich nicht! Du bist ja viel zu blöd!« Das letzte Wort betonte sie eine beträchtliche Spur lauter. »Aber weil ich so nett bin, erkläre ich es dir trotzdem: Nur Versager suchen die Schuld bei anderen! Und du bist der größte Versager überhaupt!«
In meinen Wangen begann es ähnlich zu kribbeln wie in meinem Magen.
»Ich wollte den Fehler ausbessern!«
»Du wolltest gar nichts!«
»Aber –«
»Widersprich mir nicht!« Ihre rasiermesserscharfe Stimmlage zerschnitt mein Aufbegehren in tausend kleine Stücke.
Doch unerheblich wie groß meine Furcht anmutete – ich wollte nicht mehr klein beigeben. Ich wollte mich nicht mehr unterdrücken lassen! Ich wollte meinen Standpunkt erklären!
Eben war ich dabei weitere Argumente aufzubringen, da flackerte etwas Monströses über Annas Gesichtszüge – eine Gefühlsregung, welche ich in der Form noch nie zuvor bei irgendeinem Menschen erlebt hatte. Und obgleich diese Emotion beinahe nicht erkennbar war, spürte ich sie mit einer brachialen mir kurzzeitig den Atem raubenden Intensität. Sie entfesselte mir grauenhafte Adrenalinschübe, welche wie spitze Nadeln durch meine Adern brausten. Dies wiederum brachte meine Muskeln dazu, sich schmerzlich zusammenzuziehen.
Es klang verrückt, aber in dem Moment vermittelte Anna den Eindruck, unmittelbar davor zu stehen, die Beherrschung zu verlieren und sich auf mich stürzen zu wollen.
»Verdammt