Ein mittellautes Donnergrollen schob die unnützen Überlegungen zur Seite.
So sachte, als bestünde Liza aus kostbarem Porzellan, legte er die Hände auf ihre Kinnbögen.
Weder zuckte sie zurück noch brachte sie selbst ein Wort über ihre süßen Lippen. Sie starrte ihn bloß weiter an – derart intensiv, er vermutete, sie würde bis in seine schmerzende Seele zu blicken vermögen. Derart intensiv, es radierte ihm Wortschatz wie Verstand aus.
Sekunden wurden zu Stunden.
Schmerz wurde zu Erlösung.
Verzweiflung wurde zu Hoffnung.
Das hektische Treiben um ihn herum rückte zusehends weiter in den Hintergrund – bis er es schließlich überhaupt nicht mehr wahrnahm.
Seine Finger glitten über ihre warme zarte Haut nach hinten ins weiche Haar.
Ein Blitz zuckte über den finstren Himmel. Donner dröhnte, Adrenalin wurde ihm in die Venen gepumpt –
Ehe sein Gehirn in der Lage war, etwas Ähnliches wie das eines Gedankens hervorzubringen, hatte sein Körper längst die Kontrolle übernommen und ihn dazu veranlasst, die Lippen auf Lizas zu legen.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Wangen fühlten sich an wie glühende Kohlestücke, weitere schmerzhafte Adrenalinausstöße sowie nackte sich um ihn schlingende Panik brachten ihn zum Beben.
Liza wehrte sich nicht. Einzig ihre Finger vergruben sich in sein durchnässtes Hemd.
O Gott …
Ihre das hauchzarte Kleid durchdringende wunderbare Körperwärme brannte auf seiner kalten Haut. Solch ein betörendes Gefühl – mit nichts vergleichbar … und unwahrscheinlich hilfreich dabei, ihn wenigstens zum Teil zur Besinnung zu bringen.
…
Geschah es tatsächlich?
Konnte es wahrhaftig sein?
…
Ja … ja … er küsste sie.
Er küsste Liza!
Er küsste seine Traumfrau!
Grundgütiger!
Endlich … endlich war es so weit! Nach all den sich ewig lang anfühlenden Monaten des Leids und der Zweifel durfte er sie spüren.
Liza. Wunderschöne Liza …
Unaussprechlich behutsam – und mit ungleich heftigerem Herzklopfen – teilte er ihre Lippen mit seiner Zunge.
Ihr gesamter Leib verkrampfte sich – jedoch lediglich für den Moment eines Wimpernschlags. Alsbald dieser vorübergezogen war, gewährte sie ihm Einlass.
Und die Welt stand still.
Er spürte sie erzittern, wieder und wieder. Infolge dessen schlang er die Arme um ihren Oberkörper und presste sie gänzlich an sich.
Äußerst zaghaft berührte er ihre Zunge mit seiner, wodurch ihr zierlicher Leib sich abermals versteifte. Einen Rückzieher machte sie dennoch nicht. Ganz im Gegenteil: Sie drückte sich fester an ihn.
Hatte Tina etwa richtig gelegen? Empfand Liza so viel mehr für ihn?
Er verscheuchte den unwichtigen Gedanken und konzentrierte sich stattdessen auf seinen ersten scheuen Kuss in fünf Jahren.
Lizas süßer Geschmack berauschte ihn. Ihre hilflose Umarmung entfachte den brennenden Wunsch, sie zu schützen, sie nie mehr loszulassen – sie zu besitzen.
Solch weiche, zarte Lippen … warm, köstlich …
Prickelnde Gefühlsstürme brausten ihm durch den Leib, brachten seine Leisten zum Pulsieren und seine Seele zum Strahlen.
Sie gehörte zu ihm! Er fühlte es. Sie war ein Teil von ihm. Sie gehörten zusammen.
Heißkalte Schauer veranlassten ihn, seine Umarmung zu verstärken.
Seine bedächtig gleitende Zunge gelang es weder, Liza aus ihrer Inaktivität zu reißen noch ihr Zittern zu verringern. Dieses einerseits niedliche, andererseits erregende Verhalten untermauerte seine Vermutung ihrer Unberührtheit.
Was sonst hätte sie dergestalt eingeschüchtert, denn ihr erster Zungenkuss?
Solchermaßen plötzlich wie ein neuer Donner über den Äther grollte, wurde er sich eines weiteren unglaublichen Details bewusst: Kein anderer Mann vor ihm hatte Liza berührt! Keine anderen Lippen hatten ihre liebkost. Kein anderer Mann hatte Liza jemals angefasst!
Einzig und allein ihm erwies sie die Ehre … einzig und allein bei ihm ließ sie es geschehen. Einzig und allein bei ihm. Bei ihm!
Sein Herz schlug Salti.
Sie ließ es wahrhaftig zu … presste sich abermals fester an ihn!
Hatten das Gewitter, die entfesselten Glücksgefühle und Lizas Lippen bereits den Großteil seines Verstandes hinfortgefegt, tat ihr blumiges Parfum noch das Übrige, um ihn vollends zu betäuben und seine Glut nach ihr ins Unermessliche zu steigern.
Um seinen Kuss intensivieren zu können, vergrub er seine linke Hand in ihrem Nacken.
Er erforschte sie weiter – zögerlich, behutsam, langsam. Ab und an ließ er für einen kurzen Augenblick von ihr ab, aus dem einzigen Grund sie darauf beträchtlich intensiver zu küssen, zu verwöhnen, zu entdecken.
Seufzte sie?
Er war sich nicht sicher – zu laut prasselte der Regen, zu wild schlug sein Herz …
Grundgütiger!
Kein Kuss zuvor hatte sich je solchermaßen schön angefühlt. Keine Berührung zuvor hatte sich solchermaßen verbindend angefühlt. Niemand zuvor hatte ihm solcherlei Emotionen zu entlocken vermocht.
Mit einer jeden verstreichenden Sekunde fühlte er sich freier, erleichterter, glücklicher.
Glücklich.
Wann hatte er dieses Gefühl das letzte Mal empfunden?
Er wusste es nicht mehr. Und es interessierte ihn nicht mehr. Das Einzige, das er begehrte, war der Stillstand der Zeit, damit dieser glückselige Moment niemals mehr ein Ende fand.
Ein nicht zu beschreiben vermögender haarsträubender Donnerschlag entriss ihm kurzerhand diese kostbare Emotion und brachte ihn dazu, brutal zusammenzucken wie nach Mut zu beten.
Weshalb konnte dieses schreckliche Gewitter kein jähes Ende finden? Weshalb musste dies ausgerechnet heute passieren?
Verzweiflung umschlang ihn.
Wenn er Liza nun losließe, würde sie sogleich verschwinden? Würde sie sich von ihm abwenden?
Er wollte sie nicht loslassen … er wollte sie keine Sekunde mehr missen! Zu sehr dürstete ihn, ihre Seele zu kosten, ihre Liebe zu spüren, in ihr Herz zu sehen.
Allmächtiger Gott!
Er begehrte sie mit Haut und Haar …
Der an Heftigkeit zunehmende Wind und die zusehends lauter werdenden Entladungen des Himmels nötigten ihn letztendlich, zögerlich von Lizas zuckersüßen Lippen abzulassen.
»Jan.«
Ihre gepresst-flüsternde Stimme brachte seine Welt erneut ins Wanken.
Sein Name aus ihrem Mund – so zärtlich, scheu, verunsichert – als spräche sie ihn zum ersten Mal aus.
Ein unvorstellbarer Drang, sie wieder an sich zu drücken und weiter zu küssen, raubte ihm schier den Atem.
Schluckend blickte er in ihre mit Tränen gefüllten blauen Augen. So hell sie leuchteten, vollbrachten sie nicht, eine ihm eiskalte Schauer auslösende Verzweiflung zu verbergen.