…
Liza.
Ein ihn selbst erschreckender Tatendrang entbrannte in ihm.
Es war genug! Schlichtweg genug! Genug für ein ganzes Leben!
Dieses verdammte Drama musste ein Ende finden! Sein Leben musste endlich eine Wende erfahren!
Er wollte glücklich sein! Er wollte, verdammt noch einmal, glücklich sein!
Jan ballte die Hände zu Fäusten.
Ab heute würde er nicht mehr passiv sein!
Genauso wie Theo ihm dies mit seiner Aussage klarzumachen versucht hatte: »Wenn du jemanden triffst, von dem du denkst, dass derjenige dein Leben verändern kann, dass derjenige alles für dich ist … dann um Himmels willen, kämpfe um ihn. Kämpfe darum. Lass nicht los … auch wenn es manchmal hart ist. Am Ende wirst du belohnt.«
Zum ersten Mal schien er den wahren Sinn in Theos Worten zu erkennen.
Er setzte sich gerader hin.
Das erste Mal in seinem Leben würde er nicht reagieren, sondern agieren. Das erste Mal in seinem Leben würde er wahrhaftig kämpfen – für seine Liebe zu Liza, für sein Glück, für sein Leben.
Wenn er schon kein erfolgreicher Schriftsteller wurde, dann musste es wenigstens mit der Liebe klappen!
Er wollte nicht mehr alleine sein. Er wollte nicht mehr von irgendwelchen fiktiven Frauen träumen. Er wollte Liza! Und nur Liza!
Bedrohliche tief am Firmament hängende schwarze Wolken ließen ihn für einen Moment innehalten.
War da etwa ein Gewitter im Anmarsch?
Der haltende Zug bescherte ihm einen leichten Adrenalinausstoß.
Klagenfurt.
Er war da.
Er musste aussteigen …
Aufflammende Bangnis unterdrückend erhob er sich und verließ den Zug. Alsbald er aus dem Bahnhofsgebäude trat, zuckte bereits ein Blitz über den dunklen Äther – und nicht lange dauerte es, bis ein tiefes Grollen Jans Herz kurzzeitig aus dem Rhythmus brachte.
Nein, nein, nein …
Eine sanfte dafür nicht minder hartnäckige Panik kroch allmählich aus den tiefsten Winkeln seiner Seele empor.
Ruhig bleiben. Einfach ruhig bleiben.
Mit mittelschwerer Anstrengung lenkte er die Gedanken zu dem wunderschönen Winterspaziergang zurück – wie Liza und er eingehakt durch den Schnee gestapft waren … Ihr wundersamer Blick, mit welchem sie die Rehe betrachtet hatte … Ihr zitternder Leib, welchen er an sich gepresst hatte – dort in der in Dunkelheit gelegenen Küche …
Durch die Erinnerungen neue Kraft entfacht straffte er die Gestalt, atmete ein paar Mal tief durch und setzte seinen Weg fort.
Dieses dumme Gewitter würde ihn nicht mehr aufhalten! Selbst wenn eine Sturmflut über ihn hereinbrach – er würde sich bis zu Liza durchkämpfen!
Ich werde nicht mehr aufgeben!
Keine zehn Minuten musste er warten, bis es anfing zu regnen … wie aus Kübeln.
Die schweren kalten Tropfen drangen wie nichts durch sein weißes Hemd. Und ehe er sich versah, klebte das Gewand wie eine zweite Haut an seinem Leib.
Frierend und bei einem jeden Donnergrollen zusammenzuckend wie für weiteren Mut betend marschierte er über die gelblich schillernden Pflastersteine. Zierbäume mit ihren heftig flatternden Blättern beugten sich ächzend im pfeifenden Wind – das saftige Grün ein solch unwirklicher Kontrast zum dunkelgrauen wilden Himmel.
Von den Straßen stieg leichter nach Asphalt und Stein duftender Dampf. Dieser erinnerte ihn daran, wie er im zarten Alter von sechs mit seinem kleinen weißen Fahrrad nach einem jeden Gewitter auf den verlassenen Waldwegen nahe Großmutters Haus auf Entdeckungsreise gegangen war.
Mehr und mehr Pfützen bildeten sich in den verwinkelten Gassen und auf den doppelspurigen Straßen. Autos fuhren rücksichtslos und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an ihm vorbei, bespritzen ihn mit vom heißen Asphalt erwärmten Regenwasser.
Nachdem er mittlerweile zum fünften Mal eine kostenlose Dusche erhalten hatte, beschloss er kurzerhand, einen anderen Weg einzuschlagen. Rennend überquerte er die Hauptstraße, bog rechts ab, um sodann einer schmalen Gasse zu folgen, welche ihn zu einem großen Platz führte.
Er kannte diesen Weg aus seiner Kindheit – damals hatte seine Mutter ihn jeden Tag zur Schule gebracht und war anschließend weiter in die Arbeit gegangen.
Obgleich es eine halbe Ewigkeit zurücklag, erinnert er sich nach wie vor an Mamas aufmunternde freche Art, ihre beruhigenden Worte und das strahlende Lächeln, welches sie nie verlor. Selbst dann nicht, als er ihr verkündet hatte, Schriftsteller zu werden. Ein Job, der ihr so wenig zugesagt hatte wie Janina …
Mamas mitreißendes Naturell hatte in den darauffolgenden Jahren zwar an Kraft verloren. Ihre Sichtweise, die Welt als einen magischen Ort zu sehen, hatte sich jedoch nicht geändert, ebenso wenig wie die Tatsache, an ihren Sohn zu glauben.
Selbst jetzt – mit einem gefloppten Buch und hohen Schulden stand sie zu ihm.
…
Wann hatte er Mama das letzte Mal besucht?
Es musste mindestens drei Jahre zurückliegen …
Ein neuer Schmerz entfachte in ihm.
Das musste er ändern! Alles musste sich ändern!
Unwillkürlich quollen Tränen ihm aus den Augen, vermischten sich mit den Regentropfen auf seinem Gesicht.
So viel bedurfte einer Änderung!
Sein verschleierter Blick glitt über den Platz.
Ein paar wenige äußerst tapfere kleine Sperlinge badeten fröhlich zwitschernd in den zu Seen angewachsenen Pfützen. Dutzende sich mit bunten Schirmen gegen die Regenflut schützende Leute eilten von einem Geschäft zum nächsten. Darunter Pärchen, welche sich glücklich aneinander kuschelten, sich küssten, sich süße Worte der Liebe zuraunten … und seinen Seelenschmerz immens erhöhten.
Liza.
Er musste zu ihr.
Er wollte sie umarmen. Er würde sie umarmen – gleichgültig, ob sie ihn mochte oder nicht!
Eben gedachte er, seinen Weg fortsetzen, da veranlasste ein durchsichtiger Regenschirm ihn, innezuhalten.
…
Weiße Sandaletten.
Ein buntes im Wind wehendes Kleid.
Leicht gelockte rückenlange, goldene Haare.
…
Liza.
…
Er rieb sich die Augen.
War sie es tatsächlich? Oder spielte seine Sehnsucht ihm einen üblen Streich?
Jäh richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn …
Er erstarrte.
Meerblaue Augen … bonbonrosa Lippen … gerötete Wangen.
…
Sie war es.
Sie war es tatsächlich!
O großer Gott!
Ein Donner vermochte es, ihn aus seiner Apathie zu reißen und seine Beine in Bewegung zu setzen.
Erst langsam, dann immer schneller schritt er auf sie zu – auf dieses verloren wirkende inmitten von Gewalt und Chaos stehende Geschöpf, welches sich krampfhaft an seinem Schirm festhielt.
Und plötzlich stand er vor ihr – kein halber Meter trennte