Hatte er etwa Sorge, ich würde seine Geschichte kritisieren? Zweifelte er an seiner Arbeit?
Nein … daran konnte es nicht liegen. Schließlich war Jan ein Poet … die lieblichen Beschreibungen, die Ausschmückung der Sätze … wie gerne hätte ich meine Emotionen und Gedanken in solch delikate Worte gekleidet, wie ihm dies gelang!
»Hast du früher als Schriftsteller gearbeitet?«
Ein zögerliches Nicken seinerseits folgte. »Wie weit bist du?«
»Fast am Ende … Noch zwanzig Seiten.«
Seine Wangen nahmen dieses niedliche Pink an. »Willst du das Buch noch zu Ende lesen? Oder hat es dir nicht gefallen?«
Gütiger Gott!
Dann war ich mit meiner Vermutung doch richtig gelegen?
»Natürlich will ich es weiterlesen.«
Erst recht nach diesem Kuss …
Ohne einen Gedanken an mögliche negative Folgen zu verschwenden, kuschelte ich mich an seinen Leib.
Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich vollkommen leicht und verstanden. Das erste Mal hegte ich keine Zweifel, etwas spontan zu tun.
Das erste Mal.
»Ich wollte heute weitermachen.«
»Wie schön.« Seine gehauchte Erwiderung wie seine zärtlichen ausgesandten Emotionen wischten sämtliche Gedanken beiseite, um eine Welle reiner Liebe über mich hereinbrechen zu lassen.
Ich drückte meine glühende Wange an seine Brust.
Sein Herz schlug genauso wild wie das meine.
Der Geruch von Asphalt, Regen und nasser Erde drang mir in die Nase. Geräusche des prasselnden Regens und gelegentliches Vogelschimpfen vermischten sich mit unverständlichen Gesprächsfetzen der an uns vorüberziehenden Menschen.
Nichts von alldem interessierte mich. Nichts von alldem kümmerte mich.
Denn ich bin endlich angekommen. Meine Reise ist zu Ende.
Dieser fürwahr verrückte Gedanke wurde von Jans gesenkter Stimme verscheucht. »Ist es wohl in Ordnung, dass ich dich küsste?«
»Etwas Schöneres hättest du nicht machen können.«
Abermals hatte ich nicht nachgedacht. Abermals hatte ich mich nicht gefürchtet, offen über meine Gefühle zu sprechen.
Als Antwort schlang er die Arme fester um mich – und Geborgenheit schenkte meiner Seele den so dringend benötigten kostbaren Frieden.
Jan war hier.
Er hatte mich geküsst … dieser wunderschöne Mann hatte mich geküsst. Er hegte Interesse. Er wollte mir nahe sein … ein Mann – der Mann. Dieses einzigartige kostbare Wesen …
Ehe mir dieses Glück vollständig auszukosten erlaubt gewesen war, wurde ich von den Ereignissen der letzten Stunden überrollt – Anna, Herr Urban, Saskia …
Sie zogen mein Innerstes zusammen, raubten mir die eben sachte aufkeimende Hoffnung, endlich glücklich werden zu können.
Wie sollte ich auch jemals glücklich werden …
War ich für Jan überhaupt gut genug? Oder würde er bald erkennen, wie unnütz ich tatsächlich war?
»Du kannst dir nicht vorstellen, was ich heute durchgemacht habe.« Unmöglich etwas dagegen unternehmen zu können, purzelten mir die Worte aus dem Mund. »Ich dachte, ich überlebe den heutigen Tag nicht mehr.«
Nie zuvor hatte ich darüber gesprochen … weshalb nun?
Zögerlich ließ Jan von mir ab, seine sorgenvollen Augen betrachteten mich intensiv. »Was ist passiert?«
Durfte ich weitersprechen?
Würde Jan mich nicht als eine jammernde alte nach Mitleid verlangende Tante ansehen?
»Meine Arbeit«, erwiderte ich stockend und wischte mir dabei Tränen und Regentropfen aus dem Gesicht. »Ich habe wieder Fehler gemacht … Und dann … dann wollte ich mich einmal rechtfertigen …. und dann wird mir mit der Kündigung gedroht.«
»Mein Gott … das tut mir furchtbar leid.« Ein drittes Mal schlangen seine Arme sich um mich. Und ein drittes Mal presste er sich an mich, wodurch mir diese wunderbaren berauschenden Empfindungen durch die Adern stoben. »Deshalb sahst du solchermaßen fertig aus.«
Ein schrecklich lauter Knall eines in der Nähe einschlagenden Blitzes ließ uns beide heftigst zusammenzucken.
Mein Herz klopfte dermaßen stark, ich fürchtete, einen Infarkt zu erleiden.
Ein Gutes hatte diese Situation dennoch an sich: Die erdrückenden Gefühle waren von einer Sekunde auf die andere verschwunden.
»Gott … habe ich mich erschreckt.« Vor Schock und Aufregung begann ich zu kichern. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir in meine Wohnung gehen. Nicht, dass uns noch ein Blitz streift.«
…
Aber irgendwie hatte dieser uns ohnehin längst gestreift. Ein Blitz der Liebe … damals in der Küche, währenddessen wir uns die Hände geschüttelt hatten.
…
Ich wollte mich von Jan lösen, allerdings mutete dieser an, nicht recht von mir ablassen zu wollen.
»Gehen wir?«, fragte ich, um mein Ansinnen indirekt zum Ausdruck zu bringen.
Seit jeher tat ich mir schwer, jemandem Anweisungen zu geben, und erst recht, eigene Wünsche anzusprechen. Es erschien mir egoistisch, einfach falsch.
Weshalb ich so empfand, wusste ich aber bis heute nicht.
Womöglich, weil ich fürchtete, mit meinen Bedürfnissen Mitmenschen zu bedrängen, belasten oder zu brüskieren?
Er drückte das Gesicht in meinen Nacken. »Ich … ich –« Ein weiterer Donner erklang. Dieses Mal weitaus dumpfer, dennoch laut genug, um mir frisches Adrenalin in die Blutbahn zu pumpen.
Jans Körper indessen erbebte heftig und seine Umarmung verwandelte sich in ein krampfhaftes Klammern.
Konnte es etwa sein …?
»Jan?« Mit behutsamer Beharrlichkeit zog ich ihn zurück. »Hast du … Angst?«
Glühenden Wangen – Augen voller Furcht.
Verhalten nickte er mir zu. »Ja … ja, ich bekomme da richtige Panik.«
…
Eine Tatsache schlug in meinen Verstand ein – wie der Blitz eben.
Darum der eigenartige Ausdruck, als er damals über Gewitter gesprochen hatte!
Und deshalb fühlte ich mich nun selbst dergestalt aufgekratzt! Schließlich ging Jans Panik ungefiltert auf mich über!
Himmelherrgott!
…
Eisige Kälte erfasste mich. Reue überschwemmte mich. Panik erhöhte meinen Puls auf eine schier schmerzhafte Weise.
O mein Gott! O gütiger Gott!
Erst jetzt begriff ich zur Gänze, in welcher Situation Jan sich befand – und wie ich mich verhielt!
Wir standen inmitten eines Gewittersturms, und Jan vermutlich unmittelbar vor einem Nervenzusammenbruch … Und ich hatte nichts Besseres zu tun, als meine und Jans Verhaltensmuster zu analysieren und über meine Schwierigkeiten in der Arbeit zu jammern!
Was war ich für ein gefühlloser, dummer Mensch!
Hektisch blickte ich mich um, suchte meinen Schirm.
Der Wind hatte ihn ein paar Meter weggeweht.
»Komm mit!« Ich nahm Jans Hand in meine. »Gehen wir nach Hause.«
Schnellstmöglich!