Die wie folgt beschriebenen Ereignisse beginnen nämlich wie eine typische 0815-Gruselstory, die nur eine unter vielen sein könnte. Doch je weiter man sich durch die Aufzeichnungen von Farrel vorarbeitet, desto klarer wird, dass dies alles andere als eine gewöhnliche Gruselgeschichte ist. Und man begreift, dass Lost Haven mehr ist, als es heute zu sein vorgibt. Denn einige der Geschehnisse gelten bis heute selbst unter Experten und Historikern als gesichert. Aber zurück zu Farells Tagebuch:
Es war der 14. September 1884. Ernest Hawl, ein alter von Arthritis gebeutelter Mann, saß wie jeden Tag auf der Veranda seines Hauses und blickte auf Meer. Sein Haus war das einzige, das am Fuße des Felsenhügels ‚The Old One’ direkt an der Klippe auf einer großen natürlichen Felsterrasse lag. Laut Tagebuch waren er und Arthur Farrel sehr gute Freunde, so dass Farrel Ernest Hawl als absolut glaubwürdigen Zeugen beschrieb. Demnach beobachtete Hawl gern den seltenen aber regelmäßigen Schiffsverkehr vor der Küste. Lost Haven selbst war nur selten das Ziel der Klipper und der etwas fülligeren für Neuengland typischen Down Easter.
Doch an diesem September-Morgen war etwas anders. Die See war ungewöhnlich ruhig. Hawl gab an, dass er spüren konnte, dass an dem Meer etwas falsch war, nur konnte er es nicht näher beschreiben. Wenige Stunden nach Sonnenaufgang hatte er eine Art dunkle Barriere am Horizont wahrgenommen. Hawl glaubte, dass die Welt dort hinter der Barriere aufgehört hatte zu existieren. Totenstill sei es gewesen, während Hawl das merkwürdige Phänomen beobachtete. Und so plötzlich die Barriere aufgetaucht war, so plötzlich verschwand sie auch wieder und gab den Blick auf ein Segelschiff frei. Es sei jedoch nicht eines gewesen, das Hawl jemals hier vor der Küste gesehen hätte. Es war ein eher kleiner Dreimaster mit einem hohen Achterkastell. Bis auf ein zerfetztes Segel am Hauptmast waren alle anderen Segel eingeholt oder nicht vorhanden. Das unbekannte Schiff trieb mit der Strömung.
Hawl verfolgte es über mehre Stunden mit seinem Fernrohr. Er war sich sicher, dass niemand mehr an Bord war. Das Schiff trieb führerlos wie in Zeitlupe parallel zur Küste. Schließlich drohte der Dreimaster, in eine Region mit vielen Untiefen und aus dem Wasser ragenden Felsen vorzudringen. Hawl verständigte sich mit den Dorfältesten, zu denen er selbstverständlich auch zählte, und man beschloss, rasch ein Boot zum geheimnisvollen Schiff zu entsenden, um herauszufinden, was an Bord geschehen war. Zwei Männer erreichten schließlich den Dreimaster und umrundeten ihn mit ihrem Ruderboot. Die beiden Männer berichteten später, dass ihnen ein schimmelartiger Geruch in die Nase stieg, als sie sich dem Schiff näherten. Niemand war an Bord. Der Schiffsrumpf war recht stark verwittert, aber keinesfalls morsch. Auch den Schiffsnamen konnten sie identifizieren. Es war die Speedwell.
Wie man erst fast 90 Jahre später herausfand, war die Speedwell ein Kolonial-Schiff, das England im Oktober des Jahres 1634 verlassen hatte. An Bord waren schätzungsweise 52 Kolonisten, die in der Neuen Welt ihr Glück zu finden hofften. Doch die Speedwell erreichte nie ihr Ziel und galt seither als verschollen.
Über zweihundert Jahre später tauchte die Speedwell schließlich vor der Küste Neuenglands auf. Wie ich schon sagte: So oder so ähnlich beginnen viele seichte Gruselgeschichten, von denen ich selbst genug gelesen habe, um diesem Teil der Geschichte keinen Glauben zu schenken. Doch richtig interessant wird es erst ab hier.
Es gelang schließlich, die Speedwell sicher in den kleinen Hafen, der in einer natürlichen, schmalen Bucht lag, zu manövrieren und vor Anker zu legen. Auch wenn man 1884 nichts über die genaue Herkunft und das Schicksal der Speedwell wusste, so war den Einwohnern von Lost Haven klar, dass es sich um ein Schiff aus dem 17. Jahrhundert handeln musste. Es dauerte nicht lange, bis der Begriff »Geisterschiff« durch die Straßen von Lost Haven getragen wurde. Und so wurde man sich auch schnell einig, dass die Speedwell schleunigst wieder den Hafen verlassen sollte, denn so ein herrenloses Schiff konnte nichts anderes als Unheil mit sich bringen.
Auch Hawl selbst bestätigte gegenüber Farrel, dass ihm nicht wohl dabei gewesen wäre, die Speedwell in den Hafen zu manövrieren, aber seine Neugier war stärker als seine eigenen Bedenken. So enterte er selbst das unheimliche Schiff, um Informationen zu sammeln. Er wurde allerdings enttäuscht: An Bord gab es nichts, das Rückschlüsse auf die Ursache des Verschwindens von Besatzung oder Passagieren und auf das plötzliche Wiederauftauchen der Speedwell hingewiesen hätte. Das Schiff war leer. Es gab keine Fässer, in denen der Proviant gelagert wurde, keine Werkzeuge oder Ersatzteile und auch keine Habseligkeiten.
Als Hawl im Begriff war, die Speedwell wieder zu verlassen, entdeckte er eingeklemmt zwischen zwei Planken eine Goldmünze. Es gelang ihm nicht, sie herauszuziehen. Passendes Werkzeug hatte er nicht zur Hand, und so entschied er sich, das Schiff am nächsten Tag erneut zu betreten, denn es war schon später Abend. Würde Hawl, der eine stattliche Münzsammlung sein Eigen nennen konnte, die Münze identifizieren können, so hätte er einen eindeutigen Beweis, dass die Speedwell ein Schiff aus der Vergangenheit wäre. Doch dazu sollte er keine Gelegenheit mehr bekommen. Am nächsten Morgen war die Sonne noch nicht einmal aufgegangen, da klopfte es wild an der Tür seines Hauses. Hawl sagte aus, er hätte schon geahnt, welche Nachricht der Ungeduldige an seiner Tür zu überbringen gedachte. Die Speedwell war fort. Über Nacht spurlos verschwunden.
Die wildesten Theorien machten daraufhin die Runde. So sei die Speedwell durch Geisterhand aus der schützenden Bucht von Lost Haven zurück ins offene Meer gefahren. Dämonen hätten die Speedwell entführt. Das Schiff sei auf eine unheilvolle Art lebendig geworden und hätte von alleine den Hafen verlassen. Eine andere Theorie besagte schlicht, das Schiff sei gesunken, weil es schon halb verrottet gewesen wäre. Keine Theorie, keine Geschichte über die Speedwell war in den folgenden Wochen absurd genug, um nicht ernsthaft in Lost Haven zur Sprache gebracht zu werden.
Dessen ungeachtet berichtet Farrel, dass allgemeine Erleichterung darüber herrschte, dass das Geisterschiff fort war. Doch mit dem Verschwinden der Speedwell begann etwas, dass heutige Parapsychologen und Geistergläubige weltweit übereinstimmend als die häufigsten, bestdokumentierten und vor allen Dingen folgenschwersten Poltergeisterscheinungen in der Geschichte der Neuzeit bezeichnen.
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Die meisten paranormalen Vorfälle wurden zwar von Arthur Farrel schriftlich festgehalten. Doch gab es auch andere, teilweise sogar übereinstimmende Berichte und Erwähnungen aus Briefen, Notizen, Tagebüchern und sogar aus Testamenten der Einwohner von Lost Haven. Vorab sei noch gesagt, dass sich Parapsychologen und sonstige 'Experten' bis heute nicht vollständig darüber einig sind, ob die Geschehnisse jener zehn Jahre nach dem Verschwinden der Speedwell, einem Spuk oder Poltergeist-Heimsuchungen zuzuordnen sind.
Ein Spuk wird in der Regel als eine personenbezogene, geisterhafte Erscheinung beschrieben, die auch über viele Jahre auftreten kann. Ein Poltergeist hingegen sei ortsgebunden und würde sich vornehmlich durch unerklärliche Geräusche wie Klopfen oder durch Bewegen von Gegenständen bemerkbar machen. In den letzten Jahren hat sich für die Geschehnisse in Lost Haven die Bezeichnung Poltergeist durchgesetzt, weil die meisten der mysteriösen Erscheinungen als lokal gebunden beschrieben wurden. Oder anders ausgedrückt: Fast alle Erscheinungen traten, oftmals mehrfach, in den Wohnungen der Einwohner von Lost Haven auf, unabhängig davon, wer das jeweilige Heim zur fraglichen Zeit bewohnte.
Hätte Arthur Farrel die folgenden Ereignisse nicht in so akribischer Genauigkeit niedergeschrieben, hätte sich niemals ein Historiker oder Parapsychologe ernsthaft mit dem Fall 'Lost Haven' beschäftigt. Für die Skeptiker jedoch – und davon gab und gibt es nicht wenige – ist Farrel der Quell allen Übels. Weil der überwiegende Teil der detaillierten Berichte über Poltergeister von ihm stammt, ist es ein Leichtes zu argumentieren, dass alles nur Farrels Fantasie entsprungen war, die krankhafte Ausmaße angenommen hatte. Allein durch das Anzweifeln der Echtheit von Farrels Geschichten lassen sich auch alle Berichte der übrigen Dorfbewohner als Unfug abtun, da diese – so die Skeptiker - nur auf den Geisterzug aufspringen wollten, um Aufmerksamkeit