S. G. Felix
GEISTERZORN
Der Fluch von Lost Haven
Inhaltsverzeichnis
Arthur Farrel schaut in den Spiegel
Michelle fasst einen Entschluss
Mrs. Trelawney achtet auf ihre Rosen
Susan Danvers verschlägt es die Sprache
Mrs. Abagnale verliert die Kontrolle
Prolog
Und wieder gelange ich zu der Erkenntnis, dass das Verstörende in diesem Moment nicht die Tatsache ist, dass ich aufgrund einer Vorhersehung hierher gelangt bin. Nein, mich beschleicht wiederholt das sichere Gefühl, dass ich in einem Strudel gefangen und den Kräften hilflos ausgeliefert bin. Es spielt keine Rolle, ob ich dagegen ankämpfe oder nicht.
Jetzt stehe ich hier an diesem Abgrund und warte, dass es passiert. Es gibt jetzt jedenfalls nichts mehr für mich, das noch zu erledigen wäre. Trotz der entsetzlichen Geschehnisse der letzten Tage bin ich jetzt an einem Punkt angelangt, an dem ich außer Erschöpfung nichts mehr fühle. Und ich habe keine Angst mehr.
Ich kenne diesen Ort. Ich war schon oft hier. Aber heute ist es anders. Eine Veränderung geht vor sich. Die Zeit verändert sich. Ich denke, ich habe aber noch genug Zeit, um Ihnen zu erzählen, was ich vor vier Wochen das erste Mal gesehen habe. Ich werde Ihnen erzählen, wie es mit dem unheilvollen Knarren einer Tür begonnen hat, und ich werde Ihnen erzählen, wie es mit dem Tod geendet hat. Aber vorher möchte ich, dass Sie sich eine Frage stellen und ehrlich beantworten.
Vielleicht haben Sie sich ja irgendwann einmal in ihrem Leben gewünscht, etwas Außergewöhnliches zu erleben. Vielleicht etwas, das man gemeinhin als übersinnlich bezeichnen würde. Denn genau das ist es, worum es bei mir geht. Sie werden jetzt sicher wissen wollen, wie es angefangen hat, wo ich hier bin und warum und worauf zum Teufel ich hier eigentlich warte. Aber um Ihnen meine Geschichte zu erzählen, müssen wir zurück zu meiner Frage.
Haben Sie nicht auch schon einmal etwas Übernatürliches erleben wollen? Ein UFO beobachten? Oder vielleicht mit einem verstorbenen Verwandten aus dem Jenseits Kontakt aufnehmen? Besonders wenn wir jung sind, faszinieren uns Geschichten über Übersinnliches. Aber die meisten von uns würden es vermutlich nicht bewusst selbst erleben wollen und gezielt darauf hinarbeiten, geschweige denn offen zugeben, es zu wollen. Nein, nach außen hin sind wir – Sie und ich - ja alle vollkommen rational handelnde und denkende Menschen, die über das Geplapper von Übernatürlichem nur verständnislos den Kopf schütteln. Deshalb haben Sie ja auch noch nie Ihr eigenes Horoskop gelesen, sind auch in Ihren schlimmsten Lebenssituationen nicht abergläubisch gewesen, haben nie einen Glücksbringer besessen, geschweige denn, haben jemals an Glück oder Pech geglaubt, sondern stets nur an den Zufall. Oder?
Verstehen Sie bitte, was ich damit sagen möchte: Nicht mir, sondern sich selbst gegenüber müssen Sie bei der Beantwortung der Frage ehrlich sein. Und wenn Sie das getan haben, gehe ich noch einen Schritt weiter. Haben Sie manchmal Angst vor dem Wahnsinn? Nein, ich weiß schon. Natürlich haben Sie keine Angst davor, weil Sie sich erst gar nicht trauen, darüber überhaupt nachzudenken. Egal, in welcher Form uns der Wahnsinn auch im Leben begegnen mag. Er ist Teil unserer Existenz. Trotzdem versuchen wir ihn zu verdrängen. Schließlich reicht es ja schon aus, wenn uns unsere Alpträume hin und wieder eine kleine Ahnung von Wahnsinn geben. Bei dem einen oder anderen bizarren Alptraum kann es schon einmal vorkommen, dass ein kühler Hauch von Wahnsinn durch den Türspalt quillt und wir erschauern. Dann wachen wir, wenn wir Glück haben, rechtzeitig aus dem Alptraum auf und müssen uns vergewissern, dass die Tür auch wirklich geschlossen ist. (Auch wenn wir insgeheim wissen, dass die Tür niemals richtig geschlossen werden kann.)
Aber was ist, wenn der Wahnsinn schon durch den offenen Türspalt lugt und nur ein kleiner Luftzug ausreichen würde, um die Tür ganz aufzustoßen und den Wahnsinn zu Ihnen hinein zulassen, damit er von Ihnen vollkommen Besitz ergreift? Oder noch schlimmer: sie zu zwingen, durch die offene Tür zu blicken? Zu sehen, was sich absolut Unbegreifliches und Zerstörerisches dahinter verbirgt? Auf der anderen Seite. Ich habe diese Seite gesehen, und sie hatte ihren Ursprung in meinen eigenen vier Wänden. Vermutlich drücke ich mich zu abstrakt aus. Deshalb werde ich, bevor ich alles von Anfang an erzähle, Ihnen etwas ganz Konkretes sagen:
Sie würden nicht wollen, dass Sie nichtsahnend für den Tod von geliebten Menschen verantwortlich sind. Und es nichts gibt, was Sie dagegen tun könnten.
Glauben Sie mir. Das würden Sie nicht wollen.
Arthur Farrel schaut in den Spiegel
1
Bevor ich berichte, was sich bei mir in den letzten Tagen ereignet hat, sollte ich zunächst etwas über Lost Haven erzählen. Nur dann kann man verstehen, was diesen Ort so besonders macht.
Im Jahre 1651 wurde Lost Haven das erste Mal in einem Brief eines Puritaners erwähnt. Es gibt allerdings auch andere Quellen, die das Gründungsjahr viel später auf das Jahr 1708 datieren. Fast zweihundert Jahre lang war Lost Haven nichts weiter als ein winziges, unbedeutendes Fischer-Dörfchen an der Ostküste Neuenglands. Es war aber ganz sicher nicht das schönste Fleckchen Erde. Wäre es das geblieben, was es immer war, dann dürfte es heute gar nicht mehr existieren. Niemanden hätte es hierher gezogen. Es wäre heute