»Mach dir keine Sorgen. Wir reden hier schließlich über Beverly. Sie wäre die Letzte, die nachtragend wäre.«
Peter nickte und schaute mich nachdenklich mit müden Augen an. »Danke noch mal für dein Geschenk. Ich werde es zu Hause gleich aufmachen.«
»Das kann auch bis morgen warten«, sagte ich.
Als Peter das Haus verlassen hatte, schloss ich die Tür und hielt inne. Es war kurz vor ein Uhr morgens. Absolute Stille. Peters Panikattacke hatte mich viel mehr aufgewühlt, als ich mir gewünscht hätte.
Irgendwann bricht es durch dich durch. Alles vergeht. Ich kann es nicht aufhalten. Ich bin gezwungen, es zu spüren. Ich muss mit ansehen, wie die Welt jeden Tag um eine Farbnuance ärmer wird. Ich höre jeden Tag ein Vogellied weniger. Schmecke nur noch bitter. Kann das Meer nicht mehr riechen. Merke mir jeden Tag einen Namen weniger. Träume jede Nacht einen Traum weniger. Ich sehe nur noch eine Konstante. Den Pfad, den man nur einmal betritt.
Viel zu oft hatten Peter und ich zusammengesessen und Musik gehört, während wir Träumen nachjagten. War das genug? Reichte das zum Weiterleben? Ich wunderte mich nicht, als in mir die Erkenntnis reifte, dass wir unsere Zeit nur deshalb mit Träumen vergeudeten, weil uns letztlich der Mut fehlte, dieser traurigen Existenz ein Ende zu setzen.
Warum eigentlich nicht?
Wie oft war ich schon an diesem Punkt angelangt? Wie oft hatte ich mir schon Gedanken darüber gemacht, mich umzubringen?
Warum eigentlich nicht?
Wie viele Möglichkeiten hatte ich nicht schon in Erwägung gezogen, es zu tun? Wie oft war ich schon kurz davor gewesen, es zu tun? Und wie oft hatte ich kurz davor den Schwanz eingezogen und war weinend in mein Bett gekrochen? Es war ein merkwürdiges, fast unbeschreibliches Gefühl, als ich alleine im Flur meines Hauses stehend sagte: »Nein, heute kann ich es tun.« In dieser Nacht verspürte ich das erste Mal diesen Mut, der sonst gefehlt hatte.
»Warum eigentlich nicht?«, sagte ich und griff wie in Trance nach den Autoschlüsseln auf der Kommode, als plötzlich das Quietschen einer Tür im ersten Stock meine Gedanken unterbrach und mich zusammenzucken ließ.
Das Quietschen kannte ich nur zu gut. Es war die Tür zu meinem Schlafzimmer. Sie quietschte immer ein wenig, wenn man sie auf den letzten Zentimetern ganz langsam zu- oder aufzog.
Aber von alleine hatte sie noch nie gequietscht, auch dann nicht, wenn es im Haus Zug gab, weil ein paar Fenster offen standen. Verunsichert horchte ich in die anschließende Stille und schaute die Treppe hoch, an deren Ende es dunkel war. Ich bin kein ängstlicher Mensch. Aber ich spürte, wie mein Herz pochte, weil ich wusste, dass ich immer die Tür zum Schlafzimmer geschlossen hielt, wenn ich mich nicht dort drin befand.
»Hallo?«, fragte ich in die Dunkelheit. Kaum hatte ich das getan, kam ich mir reichlich dämlich vor.
Ich betätigte den Lichtschalter an der Treppe für das Obergeschoss. Dann ging ich entschlossenen Schrittes nach oben. Im Obergeschoss gab es drei Schlafzimmer, ein Bad und ein kleines Arbeitszimmer, in dem ich früher vorhatte, meine Romane zu schreiben. Heute diente es nur noch als Rumpelkammer. Mein Schlafzimmer war auf der dem Garten beziehungsweise der zum Meer zugewandten Seite. Die Treppe verlief auf dieses Zimmer gerade zu. Oben angelangt stellte ich fest, dass die Schlafzimmertür tatsächlich ein Stück weit offen stand. Ich zögerte einen Moment. Dann machte ich die Tür ruckartig ganz auf und schnellte mit der Hand zum Lichtschalter. Ich atmete erleichtert auf, als ich mein Schlafzimmer so vorfand, wie ich es erwartet hatte. Leer. Ich griff mir mit spitzen Fingern an meine Brille und schob sie zurecht. »Trottel.« Ich hatte wohl einfach vergessen, die Tür zu schließen, auch wenn das nicht erklärte, warum sie sich überhaupt bewegt hatte. Alle anderen Türen und Fenster im Obergeschoss waren verschlossen. Aber das war mir in dem Moment egal. Ich war unglaublich müde. Vergessen waren die Selbstmordgedanken. Mal wieder.
Ich ging ins Bad und wollte noch mal duschen, bevor ich schlafen ging. Als ich mich ausgezogen hatte und den Hahn aufdrehte, hörte ich plötzlich ein lautes Poltern von unten. Ich erschreckte mich so sehr, dass ich in der Dusche fast ausgerutscht wäre. Hektisch schloss ich den Wasserhahn, krallte mir ein Handtuch und stürmte die Treppe runter. Während ich die Stufen hinunter hastete, fiel mir ein, dass ich den Fernseher nicht ausgemacht hatte. Vielleicht war der Ton plötzlich angesprungen? Ich machte überall Licht. Zuerst im Flur, dann im Wohnzimmer und dann in der Küche. Der Fernseher war zu meiner Überraschung aus.
Hatte ich ihn ausgemacht? Nein.
Vielleicht hatte Peter ihn ausgeschaltet, als ich nicht hingesehen hatte. Aber das war eigentlich völlig egal, denn woher kam das verdammte Poltern? Nacheinander kontrollierte ich alle Fenster und die Verandatür. Alles dicht. Ich stemmte die Hände in die Hüften und schaute mich ratlos in meinem Wohnzimmer um. Wie es in meiner Natur lag, suchte ich nach einer rationalen Erklärung.
Der Fernseher! Vermutlich hatte er sich aufgrund einer Störung von selbst ausgeschaltet, als ich oben im Bad war und hatte dabei ein Störgeräusch über die Lautsprecher ausgegeben. Sogleich griff ich nach der Fernbedienung und schaltete das Gerät ein. Bild und Ton waren ganz normal. Ich wartete noch einen Moment, dann stellte ich den Fernseher endgültig ab und zog sicherheitshalber den Stromstecker aus der Steckdose. Da ich die Möglichkeit eines potentiellen Einbrechers nicht ausschloss, überprüfte ich nochmals sämtliche Räume im Haus und drehte mit einer Taschenlampe eine Runde durch den Garten. Anschließend entschloss ich mich, überall Licht brennen zu lassen und ließ überall die Jalousien runter. Ich duschte danach noch ganz leise, immer ein Ohr nach draußen gerichtet. Aber es blieb still. Müde sackte ich in die Mitte des Ehebettes und legte meine Brille auf den Nachttisch am Fenster. Die Schlafzimmertür ließ ich ein großes Stück weit offen. Ich löschte das Licht und blickte zum Türspalt. Es drang genug Licht zu mir herein, so dass ich mich sicher fühlte, aber nicht soviel, dass es zu hell wurde. Normalerweise schlief ich immer bei völliger Dunkelheit, weil ich so einen besseren Schlaf bekam.
Ich lag noch eine gute Stunde so da, den Blick auf den Türspalt gerichtet.
Es dauerte bis halb vier Uhr morgens, bis ich endlich eindöste. Doch bevor ich in richtigen Schlaf versank, verspürte ich auf einmal einen stechenden Kopfschmerz, der von der linken Schläfe ausstrahlte und sich dann schnell im ganzen Kopf ausbreitete.
»Mann! Was ist das denn jetzt wieder?«, sagte ich entnervt und rieb mir die Schläfe. Ich litt nur sehr selten unter Kopfschmerzen. Nach so einem Tag wie heute war für mich ein Brummschädel jedoch keine große Überraschung. Als ich noch getrunken hatte, bekam ich nie Kopfschmerzen. Der Gedanke, jetzt aufzustehen zu müssen, ins Bad zu gehen, um mir Kopfschmerztabletten zu nehmen, missfiel mir, da ich gerade noch kurz vorm Einschlafen gewesen war.
Widerwillig zog ich die Bettdecke weg und just in diesem Augenblick überfiel mich eine eisige Kälte, die mir schlagartig eine Gänsehaut bescherte. Zunächst dachte ich mir nichts Schlimmes dabei, sondern hoffte nur, dass ich nicht Schüttelfrost und Fieber infolge einer Infektion bekam.
Doch dann, kurz bevor ich mich im Bett aufrichtete, quietschte die Schlafzimmertür. Ich schrie auf und riss den Kopf herum. Irgendein schwarzer Umriss bedeckte einen Teil des Türspalts und verhinderte das Eindringen des Lichts von draußen. Ohne meine Brille konnte ich nichts Genaueres erkennen. Panisch streckte ich meinen Arm nach der Nachttischlampe auf der anderen Seite des Bettes aus. Statt den Schalter zu ergreifen, schlug ich ungelenk die Lampe zu Boden. Ich krabbelte an den Rand des Bettes und tastete mit den Händen nach der Lampe. Statt der Lampe ergriff ich sofort den Schalter am Stromkabel und drückte drauf. Zu meinem Glück funktionierte die Lampe noch. Ich warf mich im Bett herum und starrte auf den Türspalt. Es war nichts zu sehen, soweit ich das ohne Brille beurteilen konnte. Mit dem Blick auf die Tür gerichtet, tastete ich nach meiner Brille auf dem Nachttisch. Sie war aber nicht mehr dort, weil ich sie zusammen mit der Lampe auf den Boden befördert hatte.
»Verdammt!« Ich sah noch einmal zur Tür, dann stand ich auf und suchte auf dem Boden nach meiner Brille. Es schien endlos lange zu dauern, bis ich sie endlich