Ich war zunächst von ihrer offensiven und direkten Art, mit der sie auf mich zuging, etwas befremdet, da ich mir über ihre Absichten nicht im Klaren war. Aber nach einem kurzen Gespräch wurde deutlich, dass sie maximal an einem intellektuellen Gedankenaustausch interessiert war. Für mich seit langem endlich wieder eine reizvolle Herausforderung.
Beverly schrieb viel Poesie und Gedichte für Kinder. Über ihr früheres Leben wollte sie aber auf meine Nachfrage hin nicht sprechen. Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, dass man sich mit Gedichten ein Haus in Lost Haven finanzieren konnte. Die Immobilienpreise waren gepfeffert. Selbst nach dem Platzen der Immobilienblase.
Seither trafen wir uns öfter, meist im alten Café am Hafen und sprachen über ganz normale Dinge. Ich vertraute ihr soweit, dass ich ihr meine Situation erklärte. Ich erzählte ihr von meiner Scheidung und meiner Tochter, die ich nur alle paar Monate für ein paar Stunden zu Gesicht bekam. Ich beichtete ihr auch mein Alkoholproblem und die ungewöhnliche Art meines unfreiwilligen Entzugs. Beverly reagierte nicht mit übertriebener Anteilnahme oder falschem Mitleid. Sie unterließ es auch, mich zu kritisieren, sondern blieb vornehm zurückhaltend und enthielt sich eines Kommentars, der mich sowieso vermutlich nur wütend gemacht hätte. Ein Umstand, der mich sehr überraschte, hatte sie doch sonst stets zu allem und jedem eine Meinung. Sie akzeptierte mich so, wie ich war.
Wie gesagt, ich vertraute ihr.
2
Ich stieg in meinen Wagen und fuhr zur Ixwich Street. Ich hätte laufen können, wollte aber jetzt nicht mehr Zeit verlieren. Es war schon erstaunlich, dass Beverly es fertig gebracht hatte, Peter davon zu überzeugen, mit uns beiden essen zu gehen. Und das auch noch an seinem Geburtstag! Ich hätte bei diesem Vorhaben bei ihm auf Granit gebissen, aber Beverly konnte ziemlich hartnäckig sein. Weil ich nicht riskieren wollte, dass der Abend hässlich enden könnte, wollte ich Beverly vorher noch ein wenig instruieren. Dieses Essen widerstrebte Peter zutiefst, weil er es vorzog, allein zu bleiben.
Er sagte mir einmal, dass er gerne allein, nicht aber gerne einsam wäre.
Er trug, seit ich ihn das erste Mal kennen gelernt hatte, immer einen Schatten in seinem Gesicht mit sich herum. Es war ein Schatten aus der Vergangenheit, der sich nicht lösen konnte. Ein Schicksalsschlag. Vielleicht verstand kaum jemand besser als ich, dass es irgendwann einen Punkt gibt, an dem der Schmerz zu einem Teil von einem selbst geworden ist, und dass man sich nie wieder von ihm befreien konnte. Deshalb wusste ich auch, dass man Peter nicht in die Enge treiben durfte, und deshalb redeten wir nicht über unsere früheren Leben. Es war eine stumme Übereinkunft, die wir nie antasten würden. Nur auf diese Weise war unser Leben hier noch erträglich.
Das Ergründen und Erklären, das Begreifen und das Lernen, mit dem Schmerz umzugehen, so wie man es in einer Therapie machen würde, war für uns keine Option mehr. Denn es änderte nichts daran, dass wir beide etwas verloren hatten, das einem niemand mehr zurückgeben konnte, ohne das wir aber beide nicht mehr vollständig waren. Sicher, wir konnten damit irgendwie weiterleben. Aber zwischen Leben und bloßem Weiterleben liegen Welten. Ich wollte Beverly also zu verstehen geben, dass sie keinesfalls nach Anekdoten aus Peters Leben fragen sollte. Das war mir sehr unangenehm. Nicht nur, weil ich sie nicht bevormunden wollte, sondern auch, weil ich ja praktisch gar nichts über Peters Vergangenheit wusste, was ein Auslöser für eine unangenehme Situation aufgrund einer unbedachten Äußerung hätte sein können.
Beverly stand gerade an ihrem Briefkasten, als ich auf ihre Auffahrt fuhr.
Sie blätterte den Stoß Briefe durch. »Nenne mir mal ein Grund, warum ich den Briefkasten überhaupt noch aufmachen soll«, sagte sie und seufzte.
Ich vermutete, dass ihr die zahlreichen Werbebriefe auf den Wecker gingen.
»Schmeiß sie doch in den Müll.«
Sie sah mich an und deutete zustimmend mit dem rechten Zeigefinger auf mich. »Ein gute Idee, Mister.«
Sie strich sich eine Strähne aus dem Haar. »Also, was wolltest du mir noch schrecklich Wichtiges sagen? O warte! Ich weiß was Besseres! Ich lese es aus deiner Hand«, sagte sie und griff nach meiner rechten Hand, die ich aber schnell genug wegzog. Beverly machte sich nicht selten einen Spaß daraus, mich mit ihrem Esoterik-Kram aufzuziehen. Ich war kein Freund von Horoskopen, und Astrologie hielt ich für ausgemachten Unsinn. Beverly hingegen war von diesen Dingen überzeugt. Sie las zwar nicht jeden Tag ihr Horoskop, glaubte aber fest daran, dass irgendwelche Planetenkonstellationen Einfluss auf das menschliche Verhalten haben würden. Sie glaubte, dass wir alle in einem Multiversum leben, in dem es unendlich viele Möglichkeiten gibt, und in dem alles schon einmal geschehen ist. Und wie sie nun mal so war, liebte sie es, mich mit derartigen Bemerkungen zu piesacken.
»Wenn ich wissen möchte, wann ich das nächste Mal anständigen Stuhlgang haben werde, dann werde ich deinen sechsten Sinn in Anspruch nehmen«, entgegnete ich.
»Ich bin entzückt!«
»Jetzt mal ernsthaft Beverly: Ich wollte noch kurz mit dir über Peter reden.«
»Ja, ja ich weiß. Ich soll ihm nicht zu nahe treten. Ich soll ihn nicht ausfragen. Ihr beide seid schon zwei komische Vögel, weißt du.«
»Immerhin geht er nur mit uns aus, weil er uns, respektive dir einen Gefallen tun möchte. Wer weiß, an was ihn sein Geburtstag erinnert? Es wäre sein gutes Recht, allein zu bleiben.«
»Darf ich denn wenigstens atmen, wenn wir im Restaurant sind?«, stichelte Beverly.
Ich presste die Lippen zusammen und zog die Brauen hoch.
»Schon gut, schon gut, tut mir Leid. Ich werde dich oder Peter nicht in Verlegenheit bringen. Für was hältst du mich?«
»Ich wollte ja nur...«
»Ja, ja ich habe es schon verstanden. Ich weiß doch, wie wichtig er dir ist.«
Ich schwieg.
Beverly musterte mich abschätzend. Ich mochte das nicht.
»Es wird euch aber gewiss nicht schaden, mal ein wenig unter Leute zu kommen. Peter und auch du, Ihr verkapselt euch doch sonst nur. Du wirst mir vielleicht gleich widersprechen, aber du solltest das Essen heute ein bisschen lockerer nehmen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Der eine mehr, der andere weniger. Peter ist ein erwachsener Mann. Du brauchst nicht auf ihn aufzupassen.«
Ich runzelte die Stirn und wollte schon widersprechen. Aber ich musste mir eingestehen, dass Beverly recht hatte. Vermutlich wollte ich nur nicht, dass Peter genauso abstürzte, wie es bei mir der Fall gewesen war. Kein Wunder, dass ich Beverly so zu schätzen wusste. Sie konnte einem die Dinge aus einer anderen Perspektive erklären, ohne dabei verletzend zu sein.
Ich lächelte. »Okay, ich glaube du hast recht«, sagte ich.
»Ihr holt mich dann ab?«
»Natürlich«, sagte ich, stieg wieder in den Wagen und fuhr nach Hause.
3
Pünktlich um 17.30 Uhr klingelte ich an der Tür von Peter Fryman. Peters Haus im Lexington Drive, nur etwa fünfhundert Meter entfernt von meinem Haus, war eines der kleineren in Lost Haven. So war auch das Grundstück nur etwa 500 Quadratmeter groß. Dafür aber bot es einen fantastischen Blick auf den Atlantik, weil das Grundstück gut 40 Meter über den Meeresspiegel ragte. Aus diesem Grund waren die Grundstücke auch hier die begehrtesten und folgerichtig die teuersten.
Ich musste daran denken, wie ich mit dem Kauf meines Hauses hier ein großes finanzielles Wagnis eingegangen war. Zum Glück war es gut gegangen. Während ich darauf wartete, dass die Tür geöffnet wurde, wippte ich nervös auf meinen Zehenspitzen und warf einen prüfenden Blick auf das Geschenk in meinen Händen. Ein Schlüssel wurde umgedreht, die Tür geöffnet und zum Vorschein kam ein etwas müde wirkender Peter. Seine Haare wurden von Mal zu Mal, die wir uns sahen, länger. Aber was mir an diesem Tag besonders auffiel, war, dass er mächtig gealtert aussah. Peter sah erst mich und dann das in blaues Geschenkpapier verpackte Buch an. Er starrte einen Augenblick darauf,